- Warum eine Schulbuchanalyse?
Die Schulbuchforschung versteht Lehr- und Lernmaterialien theoretisch als Politikum, Informatorium und Paedagogicum, denn sie sind „eingebettet in einen politischen, pädagogisch-didaktischen und gesellschaftlich-ökonomischen Kontext“ [1]. Vor diesem Hintergrund wird das in ihnen zu vermittelnde Wissen von verschiedenen Akteur*innen ausgehandelt. In Folge dessen bilden Schulbücher „Wissen nicht einfach nur neutral ab, sie produzieren Wissen je nachdem welche Begriffe, Inhalte, Forschungsergebnisse, Kritikpunkte aufgegriffen werden oder nicht aufgegriffen werden, wodurch sie auch gesellschaftlichen Einfluss nehmen.“ [2] Die Aufbereitung von Informationen in Lernmitteln prägt damit den geheimen Lehrplan im Schulalltag mit. Aus diesem Grund sind Schulbücher immer wieder Gegenstand der Bildungsforschung – und das nicht erst seit Kurzem.
Eine der frühen Untersuchungen zur Darstellung von Geschlecht stammt z. B. von Renate Rauch (1977), die klischeehafte Frauenbilder in Schulbüchern als Legitimation für die gesellschaftliche und rechtliche Benachteiligung von Frauen in der BRD aufdeckte. [3] Später zeigte Detlev Franz in bundesdeutschen Biologiebüchern Rassismen (u.a. Befürwortung von Eugenik) und Sexismen (u. a. Pathologisierung von Homosexualität), die noch bis in die 1980er Jahre auf nationalsozialistische Denkmuster zurückgriffen. [4] Eine neuere Schulbuchanalyse, die neben Geschlechterdarstellungen auch auf verschiedene sexuelle Identitäten fokussiert, stammt von Melanie Bittner im Auftrag der GEW (2012).
In Anlehnung an diese gleichstellungsorientierten Untersuchungen nahm die AG Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter* (kurz: LSBT*I*) der GEW in ihrer Frühjahrssitzung im April dieses Jahres eine diversitätsbewusste Lektüre aktueller Schulbücher insbesondere der Fächer Geschichte, Englisch, Politik/Gesellschaftslehre und
Biologie vor. Wenngleich die Untersuchung nicht als repräsentativ gelten kann – schon allein, weil nur die Verlagsgruppe Westermann und Cornelsen dankenswerter Weise Lehrmittel zur Verfügung gestellt haben – sollen im Folgenden Tendenzen aufgezeigt werden, die in der gemeinsamen Überblicksarbeit herausgestellt wurden.
- Vielfalt in der Bildsprache
Bilder und Abbildungen illustrieren nicht nur Lehrinhalte, sie reproduzieren auch Vorstellungen von Wirklichkeit. Dass sich Verlage zunehmend bemühen in der Bildsprache vielfaltssensibler zu sein, ist ein Ergebnis der Untersuchung. Doch noch immer schleichen sich No-Nos in die Darstellungen ein: So wird in Erlebnis Biologie für die Jahrgangsstufen 7 und 8 in Baden-Württemberg (Verlagsgruppe Westermann) der Aspekt der sexuellen Identität (nur) mit einer Drag Queen bebildert (S. 120).
Beim Thema Nahrungsbeschaffung werden frühere Methoden mit dunkelhäutigen Menschen in Lendenschutz bebildert, die mit Pfeil und Bogen in der Savanne jagen, während die heutige Art der Nahrungsmittelbeschaffung mit einem Besuch weißer Menschen im Supermarkt illustriert wird (S. 61). Auch beim Thema Körperbau und Bewegung (S. 38) werden weiße Menschen beim Kraftsport und in High-Heels gezeigt, die einzige Abbildung von People of Colour im gesamten Kapitel erfolgt exotisierend beim Tragen von schweren Lasten auf dem Kopf. Menschen unterschiedlicher Hautfarben werden in den untersuchten Büchern überwiegend marginalisiert. Wenn, dann tauchen sie gezielt in Kontexten auf, in denen die Unterschiedlichkeit von Menschen bzw. von Gepflogenheiten besprochen wird – und dann vielfach als Bewohner*innen anderer Kontinente. Das ist rassistisch und eines Einwanderungslandes nicht würdig.
Positive Ausnahmen bei der Sichtbarkeit ethnischer Vielfalt bilden die Englischbücher Headlight 6 und Lighthouse 3 von Cornelsen. Allerdings kommen auch hier Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung zu selten vor. Wenn, dann stereotyp im Rollstuhl.
- Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt
Zwar tauchen vielfältige Liebensformen mittlerweile in beinah allen untersuchten Lehrbüchern auf (negative Ausnahmen bilden o. g. Englischbücher), diese werden immer seltener gesondert als Exkurs verhandelt. Allerdings wird das zweigeschlechtliche Ideal in nur wenigen Fällen aufgebrochen – Trans*-Personen tauchen in nur zwei Lehrwerken und nur im Fach Biologie in Text und Bild auf: In Fachwerk Biologie 7-9 für Baden-Württemberg (Cornelsen) und in Erlebnis Biologie 7/8 ebenfalls für Baden-Württemberg (Westermann). Intersexualität wird in einigen Biologiebüchern besprochen, allerdings beinah ausnahmslos im Kontext von Erbkrankheiten. Queere Menschen können nur mit wohlwollendem Blick dann und wann ausgemacht werden. Viel zu oft werden die Geschlechter noch immer mit den Farben Blau und Rosa markiert.
Am wohlwollendsten stellt Biologie heute für die Jahrgangsstufen 9 und 10 für Niedersachsen (Verlagsgruppe Westermann) sexuelle und geschlechtliche Vielfalt dar. Unaufgeregt wird die „Vielfalt in Liebe, Sexualität und beim Geschlecht“ (S. 92) ausbuchstabiert: Heterosexualität, Bisexualität und Homosexualität werden definiert, das biologische Geschlecht (sex) und das psychische Geschlecht (gender) werden differenziert, Intersexualität und Transsexualität werden genannt. Die Textsprache lässt zwar an einigen Stellen die nötige Sensibilität vermissen, etwa wenn „Transsexuelle“ von „Transvestiten“ darin unterschieden werden, dass erstere Medikamente nähmen und sich operieren ließen, „um so weit wie möglich dem anderen Geschlecht ähnlich zu sehen“, während letztere lediglich „die Kleidung des anderen Geschlechts“ (S. 93) trügen. Die Abgrenzung ist ebenso oberflächlich wie diskriminierend. Dem Biologiebuch muss allerdings zugutegehalten werden, dass in Lernaufgaben reflektiert wird, weshalb Menschen fordern, die häufig pathologisierenden Attribute „transsexuell“ durch „transidentisch“ und „intersexuell“ durch „inter*“ zu ersetzen. Ebenso wird das Personenstandsgesetz problematisiert, demgemäß „die Angabe des Geschlechts im Geburtenregister weggelassen werden“ kann, wenn das Kind uneindeutige Geschlechtsmerkmale aufweist (ebd.). Dies schaffe eher Probleme, als dass es Intersexuellen helfe – die Lernenden werden aufgefordert, dazu Stellung zu beziehen.
Ein Beispiel für „gut gemeint, aber schlecht gemacht“ zeigt das Ethik-Buch Respekt 2 von Cornelsen für die Klassenstufen 7/8 in Berlin. Gleichgeschlechtliche Liebe wird hier anhand der „Verbotenen Liebe von Delphinen“ besprochen (S. 37). Zwar mag die Schilderung, dass „drei Viertel aller männlichen Großen Tümmler […] in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften“ leben, beispielgebend dafür sein, dass Homosexualität naturgegeben ist und nicht etwa eine Einstellungs- oder Entscheidungsfrage, doch anhand tierischer Verhaltensmuster die Kriminalisierung und Pathologisierung von Homosexualität sowie die „Rechte und Pflichten [?] homosexueller Paare“ (ebd.) zu besprechen, ist irreführend und wird den emotionalen Aspekten von Liebe und Partnerschaft nicht gerecht.
Dass Bildungsplanvorgaben in den Ländern ihre Wirkung in Unterrichtsmaterialien entfalten, zeigen die untersuchten Biologie- und Politiklehrbücher aus Baden-Württemberg mustergültig. Die weitgehend wertschätzende Thematisierung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in den Lehrwerken kann als Effekt der Forderungen des baden-württembergischen Bildungsplanes verstanden werden. So werden auch nur in diesen Lehrwerken „Transsexualität“ benannt und bebildert sowie die zunehmende Sichtbarkeit und Gleichstellung von LSBT*I* als Errungenschaft des emanzipatorischen Kampfes um Gleichberechtigung besprochen: Fachwerk Biologie 7-9 (Cornelsen) und Politik direkt 7/8 (Westermann). Ersteres ist auch das einzige Lehrwerk, das mit Eigendefinitionen statt mit Fremdzuschreibungen arbeitet. Beispiel: „Homosexuelle Männer bezeichnen sich selbst als schwul, homosexuelle Frauen sich als lesbisch“ (S. 288).