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Erwachsene, die offen über Sexualität sprechen können, wünsche ich allen Kindern und Jugendlichen

In den letzten Monaten wurde in Presse und Fernsehen darüber berichtet, dass u. a. sogenannte „Besorgte Eltern“ gegen die schulische Sexualerziehung auf die Straße gehen und vor einer Übersexualisierung“ der Kinder warnen, wenn die Sexualerziehung – wie im Bildungsplan Baden-Württemberg geplant – einen deutlicheren Stellenwert einnähme und die Akzeptanz von Vielfalt zum Ziel habe. Wie erleben Sie die Debatten?

Krolzik-Matthei ist Sexualwissenschaftlerin, Dipl. Sozialpädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung in Merseburg. Sie hat Erfahrungen mit sexueller Bildung in Theorie und Praxis, insbesondere mit Mädchen und jungen Frauen.

In den letzten Monaten wurde in Presse und Fernsehen darüber berichtet, dass u. a. sogenannte „Besorgte Eltern“ gegen die schulische Sexualerziehung auf die Straße gehen und vor einer „Übersexualisierung“ der Kinder warnen, wenn die Sexualerziehung – wie im Bildungsplan Baden-Württemberg geplant – einen deutlicheren Stellenwert einnähme und die Akzeptanz von Vielfalt zum Ziel habe. Wie erleben Sie die Debatten?

Eltern, die besorgt um das Wohlergehen ihrer Kinder sind und sich aktiv darum bemühen, indem sie nachfragen, anmerken, hinweisen, sind für Pädagog*innen tolle und wichtige Kooperationspartner*innen. Was aber unter dem Banner „Besorgte Eltern“ und „Demo für Alle“ verhandelt wird, ist besorgniserregend und spiegelt vor allem ein wertkonservatives, neurechtes Menschen- und Weltbild wider. Da wird mit großer Lust an der Entsexualisierung von Kindern gearbeitet – entgegen jeglicher empirischer Basis. Da wird die faktisch existierende sexuelle und geschlechtliche
Vielfalt zur Bedrohung erklärt. Da werden Forderungen nach Gleichbehandlung aller Geschlechter und einer sexuellen Bildung, die letztendlich einen Beitrag zur Demokratiebildung leistet, zu einer Ideologie stilisiert. Abgeholt wird hier eine bürgerliche Mittelschicht, die Angst vor Statusverlust hat. Zur Zielscheibe wird dann alles, was als „anders“ konstruiert wird.

Ich beobachte diese Entwicklungen aufmerksam, denn ich halte sie für bedenklich. Das Gute daran: Sie ermöglichen uns, als Sexualwissenschaftler*innen und -pädagog*innen, unsere Themen in einer größeren Öffentlichkeit zu diskutieren. Wichtig ist, dass es uns auch gelingt, eine relevante Lobby für unsere Themen zu gewinnen und unsere Methoden und Ziele so transparent zu machen, dass  besorgte Eltern nicht den Hetzkampagnen der besorgniserregenden Eltern aufsitzen.

Eltern- und Schüler*innen-Vertretungen sprechen sich – auch anlässlich der Debatten um die Bildungsreform in Baden-Württemberg – für eine Sexual- und Werteerziehung aus, die die gelebte Vielfalt an Lebens- und Liebensformen thematisiert. Geschieht das nicht bereits in der Schule?

Die Forderungen von Eltern und Schüler*innen sowie sexualpädagogischen Fachkräften und auch Lehrkräften zeigen uns, dass es offenbar Leerstellen gibt. Als Themen im schulischen Alltag ist weder Sexualität in ihrem ganzen Spektrum noch geschlechtliche Vielfalt als ein Aspekt verankert. Nahezu alle Schüler*innen erleben im Laufe ihrer Schulzeit eine Form von Sexualerziehung. Ob das aber partizipative und an emanzipatorischen Werten orientierte Projekte sind oder faktenvermittelter  Frontalunterricht ist, wissen wir nicht.

Fakt ist: Kinder und Jugendliche kommen nicht umhin, sich mit Sexualität zu befassen – mit der eigenen und auch mit der der anderen. Menschen kommen als sexuelle Wesen zur Welt. Sie verhalten sich ständig auch sexuell. Das bleibt Kindern und Jugendlichen nicht verborgen. Nur einordnen können sie nicht jedes dieser Verhalten und auch nicht jede ihrer Reaktionen darauf. Sie sind darauf angewiesen, von Erwachsenen Angebote und Antworten zu bekommen, um eine eigene Sexualität entwickeln und gestalten zu können. Schule als ein zentraler Sozialisationsort – neben der Familie – hat den Auftrag, diese Aufgabe im Rahmen ihres Bildungs- und Erziehungsauftrages, mit zu erfüllen. Sexuelle Bildung, die zu Mündigkeit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung und einer bejahenden Besetzung von Sexualität befähigt und dabei geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ganz konkret einbezieht, ist ein Teil von Demokratiebildung und gehört damit in den Themenkanon von Schule.

Das landläufige Bild von der jugendlichen Sexualität ist mit Schlagworten wie „Generation Porno“ verbunden. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Monogamie oder wildes Sexleben?

Den Pornografisierungsdiskurs haben wir zum Glück in großen Teilen überstanden. Was wir jetzt haben, ist die Debatte um sogenannte „Frühsexualisierung“. Empirisch haltbar sind diese modernen Mythen nicht. Zwar gibt es einen Teil Jugendlicher, die wir als Pädagog*innen besonders unterstützen sollten, weil sie aufgrund der benachteiligten Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, ein sehr begrenztes Bildungsangebot haben und dann auch gefährdeter sind, ungünstige Einstellungen zur Sexualität und riskante sexuelle Verhaltensweisen zu entwickeln. Für den ganz überwiegenden Teil der Jugendlichen gilt das aber überhaupt nicht. Bemerkenswerterweise geht eben das Schauen von Pornos auch nicht mit einem Werteverfall einher. Die von uns befragten Jugendlichen haben – zur Beruhigung und Freude Einiger – zum Teil sehr traditionelle Wertvorstellungen: Fast alle glauben an die große Liebe und sehr viele wünschen sich, später zu heiraten und zwei Kinder zu haben.

Und wie sieht es mit der Toleranz unter den Jugendlichen aus? Welche Einstellungen vertreten sie etwa gegenüber gleichgeschlechtlichen Beziehungen oder Transidentität?

Die Toleranz gegenüber nicht-heterosexuellen Partnerschaftsmodellen ist gestiegen und zwar immens. Dass zeigen Ergebnisse von Prof. Dr. Konrad Weller (Hochschule Merseburg)[1] zur Sexualität von Jugendlichen in Ost - deutschland. Freilich gibt es da immer noch viel zu tun. Bestimmte Gruppen von Jugendlichen neigen eher zu diskriminierenden Einstellungen als andere. Das gilt es in der Bildungsarbeit zu berücksichtigen. Die Einstellung gegenüber Trans*- und intergeschlechtlichen Menschen wird in den gängigen Jugendsexualitätsstudien bisher nicht abgebildet. Da haben wir in der Forschung noch Lücken zu schließen. Die Forschung im Bereich der Diskrimierungserfahrung von Trans*- und intergeschlechtlichen Menschen zeigt aber überdeutlich, wie groß die Ressentiments sind. Nachzulesen ist das beispielsweise in der Publikation des Kompetenzzentrums geschlechtergerechte Kinderund Jugendhilfe Sachsen-Anhalt. Das Kompetenzzentrum hat Interviews mit Trans*Kindern und  –Jugendlichen und deren Eltern geführt. Das ist auch für Lehrer*innen eine spannende Lektüre, denn sie gibt wirklich einen guten Einblick in die Bedürfnislagen und Probleme von Trans*Schüler_innen.[2]

Eltern und Pädagog*innen sind oft verunsichert, wann Sexualerziehung in der Schule thematisiert werden soll, ohne die Lernenden zu überfordern oder mit Themen zu konfrontieren, von denen Sie noch nichts wissen sollten. Was ist Ihre Position dazu?

Menschen kommen als sexuelle Wesen zur Welt und sie bewegen sich in einer Welt, in der sie  Sexualität wahrnehmen. Ihnen keine Angebote zu machen, kann das Risiko, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden, sogar erhöhen. Selbstverständlich entledigt das Erwachsene nicht, wohl zu überlegen zu welchem Zeitpunkt welche Themen für welche Kinder und Jugendlichen relevant ist. Das Alter spielt hierbei eine Rolle, aber eben nicht nur das biologische, sondern auch geistige und emotionale Reife sind einzubeziehen. Damit das dann aber nicht zur Feuerwehr- Pädagogik wird, die zur Schadensbegrenzung eingesetzt wird und dabei ein defizitäres Bild von Sexualität vermittelt,
ist es m. E. sinnvoll, so früh wie möglich altersangemessen sexualpädagogisch mit Kindern zu arbeiten.

Erste Themen sind dann bspw.: Gefühle, Wahrnehmung und Sinne, Geheimnisse, Freundschaft, Liebe, Zuneigung u. ä.. Wenn mir allerdings in einer Vorschulgruppe ein Kind freudig entgegenruft, dass die große Schwester mit ihrem Freund immer so komische Geräusche macht, wenn die allein in ihrem  Zimmer sind, dann werde ich den Kindern nicht erzählen, dass die spielen, sondern werde behutsam erläutern, dass Erwachsene sich körperlich sehr nahe kommen, wenn sie sich gern haben und dass ihnen das viel Freude machen kann. Wichtig ist doch, dass die Kinder mit ihrer Irritation nicht allein gelassen oder dafür gescholten werden, sondern das Erwachsene angemessen darauf reagieren können. Wir können uns auch probehalber ein Alternativszenario überlegen: Ich sage dem fragenden Kind, dass ich die Frage nicht beantworte, weil die Kinder noch zu jung für die Antwort sind. Der Lerneffekt: Darüber spricht man nicht. Was kann daraus folgen, wenn ein Kind tatsächlich negative Erlebnisse im Zusammenhang mit Sexualität macht? Es spricht nicht darüber, denn das ist es, was im Kindergarten gelernt wurde.

Der Stellenwert der Sexualerziehung in der Schule lässt bis heute zu wünschen übrig: Es gibt kaum Weiterbildungsangebote, Material ist rar, in derLehramtsausbildung ist die Thematik auch nicht obligat. Wie kann man Lehrkräften, die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den Unterricht einbauen wollen, den Rücken stärken?

Wir brauchen vor allem eine strukturierte, an einheitlichen Qualitätsstandards orientierte  Professionalisierung von Lehrkräften im Bereich Sexualität und sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Das muss in den Lehramtsstudiengängen beginnen, darf dort meines Erachtens nicht nur fakultativ, sondern muss verpflichtend sein. Zusätzlich müssen aber auch die Kolleg*innen, die bereits im  Schuldienst sind, sukzessive, aber flächendeckend weitergebildet werden. Nicht alle können und sollen selbst Angebote sexueller Bildung unterbreiten. Wichtig ist aber, dass nicht Lehrer*innen selbst homo-, trans- oder interphob sind und dass sie über Grundkompetenzen – dazu zählen Wissens-, Handlungs- und vor allem auch Reflexionskompetenz – zum Umgang mit Sexualität verfügen.

Es gibt seit Jahren ehrenamtliche Aufklärungsprojekte. Diese gehen in Schulen und  Jugendeinrichtungen, um mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und ihre Fragen zu Sexualität und Geschlecht zu beantworten. Inwiefern werden diese  Projekte sexualpädagogisch tätig?

Der Fokus der Schulaufklärungsprojekte liegt im Bereich der Sensibilisierung für eigene ausgeübte und/oder erlebte Diskriminierung. Das rührt selbstverständlich auch an Fragen zur eigenen Sexualität. Meines Erachtens sind sie eine Facette von Sexueller Bildung. Die Angebote basieren vor allem auch auf einem peer-to-peer-Ansatz, den ich ausgesprochen sinnvoll finde.

Wie sah Ihre Sexualerziehung in der Schule aus?
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

In der vierten Klasse hatten wir einige Vertretungsstunden bei einer Lehrerin, die mit uns diesen, aus meiner heutigen Sicht etwas verfehlten, Aufklärungsfilm von Dr. Taddäus Troll schaute. Entscheidend und nachhaltig prägend war aber, dass sie nach dem Film mit uns sprach. Sie sprach sogar
über Sex, nicht nur darüber „wie das Kind in den Bauch kommt“ und sie sagte, dass Sex sehr viel Spaß machen und etwas sehr Schönes (und Anstrengendes) sein kann. Diese Erfahrung – Erwachsene, die offen über verschiedene Aspekte von Sexualität sprechen können und die eine bejahende Einstellung zu Sexualität als einen Bestandteil des Lebens haben – wünsche ich wirklich allen Kindern und Jugendlichen. Den Pädagog*innen wünsche ich, dass sie selbst einen guten Standpunkt dazu finden und gegebenenfalls dann, wenn sie selbst nicht mit Kindern und Jugendlichen über Sex sprechen möchten, das Thema nicht tabuisieren oder gar nur negativ beleuchten, sondern Kolleg*innen oder Fachkräfte einbeziehen. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf selbstbestimmte Sexualität.
Um dieses Recht wahrnehmen zu können, sollten ihnen vielfältige Bildungsangebote gemacht werden.

 

[1] www.ifas-home.de/downloads/PARTNER4_Handout_06%2006.pdf

[2] Publikationen des Kompetenzzentrums geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe Sachsen-Anhalt zum Herunterladen:

www.geschlechtergerechtejugendhilfe.de/publikationen/gelbe-reihe

Kontakt
Marcus Heyn
Vertreter des Landesausschusses Diversity
Adresse Heinrich-Mann-Str. 22
99096 Erfurt
Telefon:  0361 590 95 21
Katja Krolzik-Matthei, Foto: privat