Tarifrunden in der Pandemie - ein Essay
In dunklen Zeiten
Seit fast zwei Jahren durchleiden und durchleben wir eine der heimtückischsten Krankheitswelten: eine weltweite Pandemie ungeahnten und ungekannten Ausmaßes und ungeahnter Handlungszwänge. Aber auch einen ungebrochenen Willen, die Solidarität und die Gesundheit nicht mikrokleinen Partikeln zu überlassen.
Viele Entscheidungen wurden und werden getroffen: populäre und unpopuläre, richtige und falsche, große und kleine, mutige und feige, schmerzhafte, weniger schmerzhafte. Eine Gesellschaft im Fieber. Menschen und Meinungen richten über sich, über andere. Leid und leiden, tagtäglich, vom Kampf um Leben und Tod in den Intensivstationen bis zu den zerstörten Existenzen in seit fast zwei Jahren massiv eingeschränkten oder gar geschlossenen Bereichen. Trotz etwas Luftholens in den Sommern. Manche im Licht, manche im Schatten. Die im Schatten, die sieht man nicht. Einsamkeit und Mangel. Nicht alle ökonomischen Hilfspakete sind angekommen, manche wurde nicht einmal losgeschickt. Lernen und Handeln oft auf Sicht.
In diesen Zeiten Tarifverhandlungen führen? Verhandlungen in Situationen, wo Vernunft gegen Kundgebungen spricht, wo die Beschäftigten von der Pandemie beruflich ausgelaugt sind? Und zu Hause, wo sich die nächsten Anforderungen und Sorgen stapeln?
Die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes haben nicht viel Rücksicht gezeigt.
Es ist auch nicht die primäre Aufgabe eines Arbeitgeberverbandes, die Belange der Gewerkschaftsseite, die Mobilisierungsschwierigkeiten in ihren eigenen Wahrnehmungshorizont zu überführen. Wo aber ein Arbeitgeber aktiv ist, der zugleich die Politik, den Staat und die Kommune repräsentiert, ist es anders. Hier müssten Vernunft und eine Gespür für die Tragweite stärker ausgeprägt sein als bei streng profitorientierten Dax-Unternehmen. In der jüngsten Verhandlungsrunde für die Landesbeschäftigten wurde erst in der dritten Verhandlungsrunde überhaupt mit Zahlen und Möglichkeiten operiert. Während das Land in der Corona-Flut versinkt, wurden die üblichen Rituale abgespielt, taktiert und telefoniert, agiert und gebremst.
Und es haben sich am Horizont, so wie ein Jahr zuvor in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen, die ersten Versammlungseinschränkungen abgezeichnet, die ein medial und mental wirksames Präsentieren der berechtigten gewerkschaftlichen Forderungen erschweren bis nahezu unmöglich machen würden. Bei aller neuer digitalen Fähigkeit, die wir im Crashkurs seit Frühjahr 2020 erlernt haben: eine analoge Veranstaltung ist echter und wahrer und spürbarer. Allein schon das warmherzige Gefühl, welches man im Streiklokal spürt, im Demonstrationszug, zusammenlaufend, fröhlich und ernst plaudernd, mit der Fahne und der Rassel in der Hand, oder auf der Kundgebung, wo man den Rednerinnen und Redner, mal zuhört, mal mit der Kollegin nebenan spricht, der andere Kollege eine Bratwurst vom Stand holt. Diese echte Welt, die wir so dringend brauchen und schätzen. Atmosphären des Möglichen.
Alles dies war teilweise nur eingeschränkt umsetzbar und damit erlebbar.
Im Sinne eines Fühlens, dass wir wieder auf der Straße sind. Und je höher die Wogen der Corona-Wellen schlugen, desto weniger war konnten die bekannten Instrumente genutzt werden. Erwähnt sei auch die Verantwortung von vielen Arbeitskampfleitungen in den Hochinzidenzgebieten, wo Streiks und Kundgebungen abgesagt oder in den digitalen Raum verlegt worden sind. Und wir dürfen auch froh sein, dass es wenigsten elektronisch gelungen ist, die Brücke der Solidarität zu errichten und zu begehen. Uns zu verbinden. Mit den anderen. Mit unseren Anliegen. Ergo: Wir haben Verantwortung gezeigt im Gegensatz zum eisigen Kurs der öffentlichen Arbeitgeber, die nicht den Blick aus den ehemaligen Luftschiffhallen in Potsdam, wo die Tarifrunden sich zu Verhandlungen destilliert hatten, gewagt haben, um zu schauen, wie die Lage im Land ist. Da wurde bis zum Schluss gepokert und spekuliert, ob es den Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen, Betrieben und Verwaltungen gelingt, Arbeitskämpfe zu organisieren.
Tarifkampf ist Klassenkampf.
So angestaubt es klingen mag. Die Verhältnisse der Kräfte sind die Indikatoren für eine Einigung. Unser Mittel: Das Niederlegen der Arbeit. Tariferhöhungen fallen nicht vom Himmel. Auch wenn dies nicht immer im Blick der vielen Nichtmitglieder und der noch mehr sein könnenden Mitglieder liegt, jeder Cent muss erkämpft, also erstreikt werden. Es ist nicht so, dass die Arbeitgeber, auch nicht die des öffentlichen Dienstes, freiwillig mehr Gehalt bezahlen für alle.
Und wer schaut hin und wacht darüber, dass es wieder etwas mehr Geld gibt?
Es sind die Gewerkschaften. Und dies ist kein abstrakter Koloss, es sind immer die Mitglieder. Es gibt keine Stellvertreterpolitik. Du und ich sind gefragt, um zum wir zu gelangen. Engagement in den Kreisverbänden, in den Bezirken und auf den Landesebenen. Das Fundament ist stark, auf dem wir gemeinsam die Tarifrunden aufbauen. Denn es geht um das Einende, um das Gemeinsame gegen Selbstherrlichkeit mancher Arbeitgeberspitzen Wir maßen uns etwas an. Gutes Geld für gute Arbeit zu verlangen statt kalten Beifalls und saurer Schluckaus-der-Pulle-Rhetorik der anderen Seite. Der Gegenseite. Deren Anmaßungen und Mutmaßungen und gegen ihre Zumutungen.
Innerhalb der solitären Pandemie und auch außerhalb derer. Was außerhalb der Pandemie schon schlecht läuft, stolpert und holpert und ruckelt in einer solchen umso mehr: Arbeits- und Gesundheitsschutz und Wertschätzung und Klugheit. Selbst wenn es betont klar und deutlich ist, dass die Bedingungen an den Bildungs- und Forschungseinrichtungen in diesen essentiellen Fragen oft mangelhaft sind, agieren die Lauten und Leisen im politischen und administrativen Raum zu spät oder überhaupt nicht. Verschrobene Verantwortlichkeiten zwischen Schulen den kommunalen Trägern, verschoben, geschoben. Alles wirkt surreal, abgehoben.
Ein Katalog der Ausreden beim Arbeitsschutz.
Wieso kommen klare Botschaften bei den Kultusministerien nicht an? Man möge dabei an Ludwig Thoma und seinen Dienstmann Alois Hingerl aus „Der Münchner im Himmel“ denken, wo der göttliche Ratschluss dem Kultusminister nicht zugestellt wurde: „Und er bekam auch gleich einen Ratschluss für den Kultusminister Wehner zu besorgen und flog ab. Allein, nach seiner alten Gewohnheit ging er mit dem Brief zuerst ins Hofbräuhaus, wo er noch sitzt. Herr von Wehner wartet heute noch vergeblich auf die göttliche Eingebung.“
Mühsame Tarifrunden
Mühsam muss die Maschinerie der Tarifrunden immer wieder und immer wieder in Gang gebracht werden, wenn die Laufzeit des Tarifvertrages sich dem Ende nähert. Es müssen die Entgelttabellen gekündigt werden, um rechtlich streikfähig zu werden. Es müssen die Beschäftigten motiviert werden, um faktisch streikfähig zu werden. Die Gelenke des Arbeitskampfmechanismus wieder ölen. Die Beschäftigten und Mitglieder wieder mitnehmen. Ihnen zurufen, es geht wieder los. Wieder und wieder. Forderungen diskutieren und am Ende des Tages, meistens ein früher Morgen, statt des Kittels im Chemieraum, die Streikweste anziehen.
Und wie anders und doch gleich in Pandemiezeiten.
Videokonferenzen und Konferenzchen und digitale Großbühnen. Wir fahren alles auf, um den Zusammenhalt zu ermöglichen. Hin zu den von der Pandemie Abgekämpften und trotzdem Unverzagten.
Und es ist gelungen. Dies ist die zentrale Botschaft. Wir haben die Tarifrunden im öffentlichen Dienst in der Pandemie gestaltet: Von der Tarifrunde 2020 im Bereich Bund und Kommunen, im Frühherbst 2021 in Hessen und im Spätherbst des gleichen Jahres für die anderen fünfzehn Bundesländer. Mit Stärke und Zuversicht. Auch immer im Bewusstsein, dass wir den Spielchen der Arbeitgeberseiten unsere Kraft entgegensetzen müssen und unsere Würde. Die gute alte Solidarität wirkt. Auch in dunklen Zeiten.
60489 Frankfurt am Main