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Gastbeitrag

Das Leben mit einer Hörbehinderung in Zeiten der Corona-Pandemie

Und plötzlich war alles anders: Wie ein kleiner unscheinbarer Virus in kurzer Zeit das Leben verändert hat. Ein Gastbeitrag von Katrin Scholz, Vorsitzende der Hauptschwerbehindertenvertretung beim Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft (TMWWDG).

Quelle: Canva Pro

„Die Corona-Pandemie brachte im März 2020 in wenigen Tagen nicht nur das öffentliche Leben fast völlig zum Erliegen, sondern führte besonders für Menschen mit einer Hörbehinderung von einem auf den anderen Tag zu weitreichenden Einschränkungen. Um die Bevölkerung zu schützen, wurde die Maske zum Begleiter aller. Über die Folgen für die Kommunikation wurde wenig oder noch drastischer ausgedrückt „gar nicht“ nachgedacht.

Gerade Menschen mit einer Hörbehinderung bereiten gedämpfte Stimmen und abgedeckte Lippen massive Probleme. Das verhindert, dass Menschen, die auf das Lippenlesen angewiesen sind, dieses einzigartige zentrale Mittel zwischenmenschlicher Verständigung nutzen können. Die Maske, die als Schutz dienen soll, wird zur Barriere und nimmt hörbehinderten Menschen diese Möglichkeit der Kommunikation und damit die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe. Das hat schwerwiegende Folgen: Menschen mit Hörbehinderung ziehen sich aus dem Leben zurück, der Abstand zum gesellschaftlich aktiven Leben wächst, sie werden ausgegrenzt.

Leider wurde nie wirklich über die daraus entstehenden Konsequenzen und mögliche Alternativen nachgedacht. Auch anderthalb Jahre nach Beginn der Pandemie wird die Maske noch immer als das mildeste Mittel angesehen. Für die knapp 16 Millionen Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung oder Gehörlosigkeit ist dieses Mittel aber nicht „mild“, sondern eine enorme Belastung und ein massiver Eingriff in die Wahrnehmung ihrer Grundrechte.

Die Einschränkungen betreffen nahezu alle Situationen – sowohl beruflich als auch privat

Der Einkauf in einem Geschäft, der Besuch beim Arzt, der zwischenmenschliche Austausch von Informationen im beruflichen und privaten Umfeld, also „das Stillen von normalen Bedürfnissen“, wird zum Problem und verstärkt die durch eine Hörbehinderung ohnehin schon gegebenen Nachteile erheblich. Beratungen, Nachfragen, Zuhören sind keine Selbstverständlichkeiten mehr. Man muss sich jedes Mal bspw. im Geschäft, beim Arzt, im beruflichen Kontext von Neuem erklären. Man bittet den Gesprächspartner, laut und deutlich zu sprechen, die Maske abzunehmen und selbst entschuldigt man sich nicht selten wegen der eigenen Hörbehinderung. Der Datenschutz wird damit zum Fremdwort. Wenn man Glück und es ertragen hat, trifft man auf Verständnis. Wenn man Pech hat, ist das nicht der Fall und es kommt zum Rückzug, zur Ausgrenzung. Die normalen Grundrechte nach Grundgesetz und UN-Behindertenrechtskonvention sind plötzlich wertlos. Menschen im Arbeitsleben berichten bspw. von Anfeindungen und massivem Unverständnis, nur weil sie aufgrund von schweren Verständigungsproblemen mehrfach nachfragen müssen. 

Auch die zunehmende Digitalisierung wird für Menschen mit bestimmten Hörbehinderungen zum Problem. Der plötzliche Umstieg komplett auf Online-Techniken und Onlinekommunikation kann zu einer unüberwindbaren Hürde werden. Leider sind die technischen Möglichkeiten z. B. für Menschen mit Hörbehinderung, für die auch mit Hörgeräten kein ausreichendes Sprachverstehen möglich ist, noch begrenzt. Eine technische Lösung, bei der Sprache in Text umgesetzt wird, sowohl beim Telefonieren, in Onlinekonferenzen oder auch bei Gesprächen in Konferenzen und größeren Veranstaltungen wäre eine enorme Hilfe, um gleichberechtigt teilhaben zu können. Wir brauchen endlich brauchbare technische Lösungen für diese Situationen. Ist das nicht auch ein Thema für die voranschreitende Digitalisierung?

Was uns sehr nachdenklich macht

Menschen mit Behinderung kommen in der Pandemie so gut wie nicht vor. Corona verstärkt wie unter einem Brennglas nur noch mehr die auch sonst schon bestehenden Probleme und Einschränkungen von Menschen mit Behinderung, mit denen sie tagtäglich gesellschaftlich konfrontiert werden. Dazu gehörten vor allem mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit für ihre besondere Lebenssituation und Akzeptanz. Während die ganze Zeit von geschlossenen Schulen, gestressten Eltern oder einsamen Senior:innen gesprochen wurde, spricht keiner von Menschen mit Behinderung.

Dass Menschen mit einer Hörbehinderung seit anderthalb Jahren buchstäblich ganz normale Grundrechte genommen werden, wurde in den vielen politischen Debatten nicht thematisiert. Hier ist ein wirkliches Umdenken auch in Anbetracht der bestehenden Impfmöglichkeiten zwingend erforderlich.

Warum keine Impfpflicht?

Es kann nicht sein, dass Menschen mit einer Hörbehinderung weiterhin solche massiven Einschränkungen hinnehmen müssen und auf der anderen Seite extrem viel Ignoranz, bspw. durch Impfgegner und Impfunwillige besteht. Wir stellen uns hier die berechtigte Frage: Warum ist man politisch nicht mutiger, z.B. durch eine Impfpflicht? Denn mit der Impfpflicht würden auch die Personengruppen geschützt, die zurzeit noch nicht geimpft werden können oder bei denen eine Impfung aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist.

Die Freiheit zur Entscheidung über eine Impfung und das Verantwortungsbewusstsein gegenüber anderen Menschen kann man nicht trennen. Gerade letzteres muss mehr in den Vordergrund gerückt werden, insbesondere bei ungeimpften Personen, die durch ihre Tätigkeit in besonderer Verantwortung gegenüber den ihnen anvertrauten Menschen stehen, z. B.:

  • bei Grundschullehrer:innen und Erzieher:innen, die ständig mit Schüler:innen und Kindern Umgang haben, die noch nicht geimpft werden können,
  • bei Personal in Pflegeeinrichtungen, die ständig mit Hochrisikogruppen zu tun haben, und
  • bei Ärzt:innen und medizinisches Personal.

Man kann über Sanktionen für Impfunwillige nachdenken, bspw. zusätzliche Krankenkassenbeiträge, steuerliche Belastungen, usw., die dem überlasteten Gesundheitswesen und der stark betroffenen Wirtschaft und der Kulturbranche zugutekommen sowie Einschränkungen ihrer Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, weil sie genaudas billigend für andere in Kauf nehmen.

Fazit

Insgesamt wünschen wir uns in diesem Zusammenhang von allen Mitmenschen einen sorgfältigen und verantwortungsvollen Umgang miteinander. Auch aus dem Blickwinkel heraus, dass Menschen mit einer Hörbehinderung besonders unter den Folgen der Infektionsschutzmaßnahmen leiden. Nur so kann nach unserer Meinung die Pandemie in absehbarer Zeit „gemeinsam“ überwunden werden. Auch die Politik muss dringend sensibler mit dieser Thematik umgehen. Eine Ausgrenzung von ca. 20 % der Bevölkerung ist nicht länger hinnehmbar.“

Kontakt
Katrin Scholz
Vorsitzende der Hauptschwerbehindertenvertretung beim TMWWDG
Adresse Carl-Zeiss-Straße 2, Zimmer 3.87
07743 Jena