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Fremdenfeindlichkeit - eine Konstante (nicht nur) in Thüringen

Ich empfehle Landolf Scherzer: Die Fremden, Berlin 2002.

Landolf Scherzer ist ein bedeutender zeitgenössischer Thüringer Schriftsteller, der bereits in der DDR den investigativen Journalismus geprägt hat. Dabei bedient er sich – offener – teilnehmender Beobachtung und einer Gesprächsführung, die seinen Gesprächspartner:innen zahlreiche Informationen aus deren Alltag entlockt. Er versteht es brillant, seine Beobachtungen und Gespräche zu literarischen Reportagen zusammenzufügen, die die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten widerspiegeln.

Auch die GEW Thüringen hatte Landolf Scherzer schon zu Gast – und zwar auf dem Podium ihrer 17. Hochschulkonferenz am 31. Januar 2009 in Erfurt. Ausgehend von Thüringen trägt sein Werk dazu bei, über mehrere Jahrzehnte das Leben hierzulande und weit darüber hinaus zu verstehen.

Viele seiner Bücher bergen eine traurige Realität in sich, so „Die Fremden“, mit dem Untertitel „Unerwünschte Begegnungen und verbotene Protokolle“. Nachdem Landolf Scherzer selber in Moçambique gearbeitet hat, wollte er nach seiner Rückkehr 1982 mehr über die Lebensbedingungen der Moçambiquaner in der DDR erfahren. In seiner Heimatstadt Suhl, wo viele moçambiquanische Vertragsarbeiter bei Fajas (VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk Suhl „Ernst Thälmann“) arbeiteten, hat er mit vielen Menschen – Deutsche und Moçambiquaner – gesprochen. Jedoch durfte sein Buch nur unvollständig erscheinen, nämlich ohne die Gesprächsprotokolle mit den DDR-Bürgern.

20 Jahre später hat Scherzer diese Protokolle wieder aufgegriffen und versucht, seine Gesprächspartner:innen von 1982 aufzufinden und die Gespräche von damals fortzuführen. Die alten Gesprächsprotokolle werden den neuen gegenübergestellt. Herausgekommen ist ein erschütterndes Zeugnis von Alltagsrassismus in der DDR und im vereinigten Deutschland. Obwohl Rassismus offiziell nicht geduldet war, war er in fast allen Bereichen der Gesellschaft omnipräsent. Zwar gab es auch Freundschaften und sogar „schwarz-weiße“ Beziehungen, allerdings wird deutlich, dass die „Mehrheitsgesellschaft“ nicht so handelte.

Erschreckend ist beim Lesen im Jahr 2023 die Aktualität: Hat sich überhaupt etwas geändert in den letzten 40 Jahren? Oder ist Fremdenfeindlichkeit eine Konstante geblieben, die unsere Gesellschaft kennzeichnet? Wird sie gar kontinuierlich schlimmer? Auf jeden Fall ist sie offener geworden:

„Vielleicht warten die gleichen, die früher versteckt im Dunkeln gestanden und heimlich Steine geschmissen haben, heute im Licht und schlagen zu“,

stellt resigniert ein Mann fest, der schon mehrfach Opfer rassistischer Gewalt geworden ist. Ist es nicht nur Fremdenfeindlichkeit, sondern gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die sich unterschiedlich manifestiert?

„Wer weiß, wenn diese Schläger in Suhl keine Schwarzen, keine Vietnamesen oder keine Linken zum Abreagieren finden, die lassen dann auch an alten und versehrten Menschen ihre Wut aus“,

äußert sich eine ehemalige Suhler Gastwirtin, die sich nur noch im Urlaub im Ausland nachts auf die Straße traut.

Im Buch gibt es ein Nachwort von Günter Wallraff, dem wohl profiliertesten westdeutschen – meist verdeckt arbeitenden – Investigativjournalisten. Er schreibt:

„Insgesamt wächst in den europäischen Zentren die Xenophobie. In der Bundesrepublik zeigt sich seit der Wiedervereinigung, dass sich einiges an unseligen deutschen Untugenden paart und damit potenziert.“

Kontakt
Thomas Hoffmann
Stellvertretender Landesvorsitzender
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