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Warum das AGG allein nicht reicht

Das Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) 2006 stellte eine wichtige Zäsur für den Diskriminierungs- bzw. Minderheitenschutz in Deutschland dar. Als eines der letzten EU-Länder folgte Deutschland damit den geforderten EU-Richtlinien.

aus: „Diskriminierungserfahrungen in Deutschland: Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und einer Betroffenenbefragung“, Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz – § 1 Ziel des Gesetzes:
„Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse [sic] oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“

Diskriminierung wird im AGG § 3 definiert als „Benachteiligung […], wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ Es wird im AGG durchgängig von „Benachteiligung“ gesprochen. Das Wort „Diskriminierung“ kommt vor Abschnitt 6 nicht einmal vor. Abschnitt 6 beschreibt die unabhängige Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), welche parallel zur Begleitung eingesetzt wurde. 

Laut AGG kann Diskriminierung unmittelbar durch (Be-)Handlungen von Personen geschehen, z. B. das Verwehren des Zugangs oder von Dienstleistungen in Einrichtungen aufgrund der in § 1 geschützten Merkmale. Diskriminierung findet auch mittelbar durch ungerechtfertigte „dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren“ (§ 3) statt, d. h. institutionelle Diskriminierung wie das Nichterhalten eines Arbeitsplatzes oder einer Wohnung. Der Geltungsbereich des AGG erstreckt sich laut § 2 über den Bereich „Arbeit“ (Zugang zu Erwerbstätigkeit, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, Zugang zu Berufsbildung), „Sozialschutz“ (soziale Sicherheit, Gesundheit), „Bildung“ sowie „Zugang zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen“ (z.B. Wohnraum).

  • Aus Sicht der Betroffenen

Nach wie vor werden Menschen in Deutschland unter anderem aufgrund der im AGG § 1 geschützten Merkmale diskriminiert. Eine repräsentative Umfrage der ADS im Jahr 2015 zeigte, dass aufgrund der Merkmale in § 1 knapp ein Drittel aller Deutschen in den letzten zwei Jahren vor der Befragung Diskriminierung erlebt haben (siehe Abbildung).

Am häufigsten nannten die Teilnehmenden ihr Lebensalter als Diskriminierungsgrund (14,8 %), gefolgt von der sozioökonomischen Lage (10,1 %) – welche wohlgemerkt bisher kein im AGG festgeschriebenes Merkmal ist. An dritter Stelle folgten Diskriminierungserfahrungen aufgrund des Geschlechts bzw. der Geschlechtsidentität.

Mit Diskriminierung sind Betroffene im Alltag in Interaktion mit Anderen konfrontiert (von Beleidigungen bis hin zu Gewalt). Betroffene erleben oben beschriebene – und durch das AGG fokussierte – institutionelle Diskriminierung wie Job- oder Wohnungsabsagen. Nicht im AGG eingeschlossen sind Kontrollen ohne Verdacht (z. B. durch Polizei). Diskriminierung findet auch auf struktureller Ebene statt: Hierzu zählen Erfahrungen, die z. B. durch Marginalisierung (z. B. fehlende Barrierefreiheit) oder mit herabsetzenden Darstellungen in öffentlichen Diskursen und medialen Darstellungen gemacht werden. Gesellschaftliche Werte und Normvorstellungen drücken sich in Repräsentationsverhältnissen aus, d. h. in der Sichtbarkeit von Minderheiten und Frauen (z. B. in Schulmaterialien, im Bundestag). Für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, stellt sie einen chronischen lebenslangen Stressor dar. 

Eine Befragung von Betroffenen in Thüringen 2017 zeigte, dass die Anzahl der Diskriminierungserfahrungen in den letzten zwei Jahren negativ mit der Gesundheit der Menschen, ihrem Sicherheitsgefühl in Thüringen und ihrem Vertrauen in Regierung, Polizei und Gerichte einher ging (Dieckmann/Geschke/Braune 2017). Je mehr Diskriminierungsmerkmale Betroffene für sich wahrnahmen, desto negativere Auswirkungen berichteten sie (z. B. als lesbische Frau mit Behinderung). Mehrdimensionale Diskriminierungserfahrungen spielen für viele Betroffene eine bedeutsame Rolle. Von dieser Bandbreite an Diskriminierung bildet das AGG nur einen Bruchteil ab. 

  • Antidiskriminierungsberatung

Unerlässlich für eine funktionierende Antidiskriminierungspolitik ist neben dem gesetzlichen Diskriminierungsschutz auch eine unabhängige Antidiskriminierungsberatung, so Daniel Bartel, Geschäftsführer des Antidiskriminierungsverbandes Deutschland (advd). Durch professionelle Antidiskriminierungsberatung werden Betroffene über ihre Möglichkeiten des Einspruchs informiert, im Falle einer Anzeige prozessbegleitend unterstützt und im Umgang mit Diskriminierung (auch jenseits des AGG) sowie mit möglichen psychischen und ökonomischen Folgen beraten. Langfristige Modelle einer flächendeckenden Beratung gibt es in Deutschland nur wenige. In Thüringen vernetzen sich momentan zivilgesellschaftliche Initiativen mit Unterstützung des advd, um die Schaffung einer solchen Infrastruktur voranzutreiben.

  • Diskriminierung im Bildungsbereich

Im AGG wird der Bildungsbereich zwar erwähnt, jedoch ist Bildung bekanntermaßen Ländersache. So betont die ADS in ihrer Evaluation des AGG, dass „Bund und Länder aufgerufen [sind], einen vergleichbaren Diskriminierungsschutz auch dort zu schaffen, wo z.B. Sicherheitsbehörden oder staatliche Bildungsträger gegen die Diskriminierungsverbote verstoßen.“ (ADS, 2016, S.19). Ein Fenster dafür bietet in Thüringen momentan die Enquete-Kommission im Landtag zu „Rassismus und Diskriminierung“. Zahlreiche Stellungnahmen aus dem Thüringer Bildungsbereich wurden angehört. Die Landesschülervertretung berichtete z.B. von Vorfällen rassistischer Diskriminierung, Diskriminierung aufgrund des sozioökonomischen Status und aufgrund des Gewichts. Auch über institutionelle Diskriminierung wurde gesprochen wie den Fakt, dass Jugendliche mit Migrationsgeschichte weniger häufig das Abitur erreichen.

Die Empfehlung für eine Antidiskriminierungsgesetzgebung auf Landesebene (u.a. für den Bildungsbereich) wäre ein wünschenswertes Resultat der Enquete. Der Thüringer Bildungsminister Holter zeigte sich 2017 offen gegenüber diesen Überlegungen: „Im kommenden Jahr will er sein Ministerium an einem Antidiskriminierungsgesetz arbeiten lassen.“ (Thüringen 24, 18.12.2017) Quod erat demonstrandum: Das AGG allein reicht nicht aus. Es kann nur ein Baustein von vielen sein in einem gesamtgesellschaftlichen Maßnahmenpaket gegen Diskriminierung auf allen Ebenen in allen Lebensbereichen.

Literaturnachweise & Leseempfehlungen:

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016). Diskriminierungserfahrungen in Deutschland: Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und einer Betroffenenbefragung.

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016). Evaluation des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.

Dieckmann, Janine/Geschke, Daniel/Braune, Ina (2017). Die Auswirkungen von Diskriminierung für Betroffene und die Gesellschaft. In:
Schriftenreihe „Wissen schafft Demokratie“ des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, Band 2, Amadeu Antonio Stiftung: Berlin.

Thüringen 24 (18.12.2017). Studie: Diskriminierte fühlen sich krank und unsicher.

Kontakt
Dr. Janine Dieckmann
wissenschaftliche Referentin am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft
Adresse Talstr. 84
07743 Jena
Telefon:  03641 2719401