Interview mit der Sprecherin der Landeselternvertretung (LEV) Thüringen
„Während viele über sich hinauswachsen, ducken sich andere ab.“
Die Eltern sind für das System Schule natürlich nicht wegzudenken und wichtiger Ansprechpartner für die Pädagog:innen. Über ein in jeglicher Hinsicht unnormales Jahr, über die guten und über die schlechten Erfahrungen sprachen wir mit Claudia Koch, Sprecherin der Landeselternvertretung Thüringen.
Wie sind die Eltern durch die bisherige Pandemie gekommen? Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Grundschul- und dem Sekundarschulbereich?
Wir Eltern haben das letzte Jahr sehr unterschiedlich erlebt, denn zusätzlich zur Belastung durch den nicht-normalen Alltag und die Sorge um die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder erleben Eltern ja die Krise auf einem sehr realen wirtschaftlichen Level. Und jemand, der seinen Job nicht ausüben kann oder in prekären Verhältnissen feststeckt, kann auch bei den Kindern deutlich weniger Zuversicht und Optimismus verbreiten als Eltern, deren soziale Verhältnisse gesichert sind. Mit dem langen Andauern des Ausnahmezustands nehmen je-doch die Sorgen überhand: Eltern sorgen sich um die Entwicklung des Nachwuchses aufgrund fehlender Struktur und Kontakte, fehlender Wahrnehmung von Perspektiven und der Ungewissheit, wie das alles aufgeholt werden soll. Mit jüngeren Kindern ist zudem der Alltag deutlich schwerer zu bewältigen und stellt Familien vor große Herausforderungen. Eltern geraten an ihre Grenzen.
Wie haben die Lehrkräfte die Anforderungen aus Elternsicht gemeistert? Was lief gut und was hätte besser funktionieren müssen?
Eine solche Situation haben wir alle noch nicht erlebt. Deutlich wurde jedoch, dass bereits bestehende Charakteristiken verstärkt zutage getreten sind. Schulen, die bereits vor der Pandemie gut auf Veränderungen reagieren konnten, schaffen das nach einigen Startschwierigkeiten auch jetzt. Lehrkräfte, die sich für ihre Schüler:innen engagieren, wachsen jetzt über sich hinaus. Sie halten Kontakt zu den Kindern, bereiten gewissenhaft Aufgaben vor, spiegeln die Ergebnisse an die Schüler:innen und werden nicht müde, sich auch technisch und didaktisch weiterzuentwickeln und nach immer neuen und besseren Lösungen zu suchen. Doch wir haben auch hier den Querschnitt wie im »richtigen« Leben. Während viele über sich hinauswachsen, ducken sich andere ab. Auch ein Jahr nach dem Beginn des ersten Lockdowns wünschen sich einige Eltern noch immer regelmäßigen Kontakt zu den Lehrkräften, der schlicht nicht stattfindet.
Sind die Ängste der Pädagog:innen angesichts einer beispielsweise Anfang Dezember erreichten Inzidenz von 1.200 bei den Lehrkräften an Thüringer Schulen berechtigt und inwieweit geht die LEV darauf ein?
Wir halten die Befürchtungen der Lehrkräfte ebenso für berechtigt wie die der älteren Schüler:innen, die denselben Ansteckungsgefahren ausgesetzt sind, wenn sich zu viele Menschen auf engem Raum befinden. Die LEV fordert seit Beginn der Krise, die Schulen für die aktuellen Umstände fit zu machen. Anfangs ging es um einfachste Maßnahmen wie fließendes Wasser, Seife und Papierhandtücher, inzwischen setzen wir uns für Luftreinigungsanlagen, Lüftungsgeräte sowie weitere infrastrukturelle Lösungen ein, um Schulen sicherer zu machen und den Unterricht zu entzerren. Der Weg ist jedoch ein weiter, denn obwohl Schulen in den letzten Jahren zunehmend saniert wurden, haben wir es hier mit den Nachwirkungen von jahrelangen Versäumnissen zu tun. Das muss sich ändern – auch über die Krise hinaus.
Teile der Elternschaft standen den Pädagog:innen sehr kritisch bis abwertend gegenüber. Wie hat sich die Einschätzung der Leistungen der (meisten) Pädagog:innen angesichts der Lockdown-Erfahrungen durch die Eltern tendenziell verändert?
Häufig wird die Meinung der Eltern durch das eigene Erleben bzw. durch Berichte aus dem Umfeld geprägt. Wenn uns Eltern spiegeln, dass ihre Kinder seit über acht Wochen keinen persönlichen Kontakt mehr zu Lehrkräften hatten, kommt natürlich keine Freude auf. Um-gekehrt hören wir von Eltern, wie intensiv sich Lehrkräfte an Schulen um ihre Schüler:innen bemühen und sich flexibel auf die Situation einstellen. Im ersten Fall ist die kritische Einstellung den Lehrkräften gegenüber durchaus verständlich und berechtigt. Wird diese Kritik laut geäußert, sorgt sie jedoch bei den engagierten Lehrkräften für Verstimmung – was ebenso nachzuvollziehen ist.
Wir in der LEV setzen uns mit unserer Arbeit für gegenseitiges Verständnis ein. Wir versuchen intensiv, Vorgaben durch die aktuellen Regelungen sowie Abläufe an Schulen zu erklären, die vielen Eltern so noch nicht klar waren, erläutern jedoch auch gegenüber Lehrkräften, wie sich manche holprigen Entscheidungen im Familienalltag als schier unmöglich darstellen. Oftmals konnten wir dadurch auch für beide Seiten befriedigende Lösungen herbeiführen.
Welche Schlussfolgerungen kann die LEV aus den Problemen und den neuen Möglichkeiten von “Schule in der Pandemie” ziehen?
Tatsache ist, dass sich in den Schulen viel getan hat. Nicht nur im Bereich Digitalisierung wurden Änderungen auf den Weg gebracht, die ohne diesen Druck sicher nicht so schnell möglich gewesen wären – und die über die unmittelbare Krisensituation hinaus weiter genutzt und ausgebaut werden müssen. Andererseits lassen sich aber jahrelange Versäumnisse nicht innerhalb kurzer Zeit wettmachen, auch nicht mit größtem Engagement. Als besonders wichtig hat sich eine gute und klare Kommunikation herausgestellt. Wenn die Positionen aller Seiten klar sind, wenn Maßnahmen nachvollziehbar und verständlich kommuniziert werden, führt das zu deutlich weniger Verstimmung und ist eher erfolgreich, als wenn schlecht kommuniziert wird.
Ein gutes Miteinander ist gefordert, denn es hat sich gezeigt: Dort, wo eine Schulgemeinschaft bereits vor der Pandemie gut funktioniert hat, wo alle an Schule Beteiligten unter Einbeziehung von Schüler:innen sowie von Eltern umsichtig gehandelt haben, wurden kreative Lösungen gefunden, die alle miteinander voranbringen. Doch ideelles Engagement reicht nicht aus. Schule muss von der gesamten Gesellschaft mitgedacht und noch intensiver mitfinanziert werden, denn sie ist in allen Bereichen verankert und die Gesellschaft profitiert von guter Schule. Darum muss ein Land wie Thüringen Schule und Bildung zur obersten Priorität erheben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde von Michael Kummer geführt.
99096 Erfurt