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Gehört sich das?

Über Pornos in der Schule sprechen.

In der Schule wird über vieles gesprochen – Lehrkräfte und Schüler:innen bringen Themen ein. Aber was gehört in die Schule und was nicht? Lehrkräfte kommen gerade bei Tabuthemen wie Pornografie an ihre Grenzen. Der Beitrag stellt Arbeits- und Praxismaterialien vor und lädt dazu ein, Pornografie zum Unterrichtsgegenstand zu machen, Orientierung und Gesprächsräume zu bieten und Schüler:innen nicht mit ihren Erfahrungen allein zu lassen.

Quelle: Sharon McCutcheon - unsplash

Sexualität im digitalen Raum

Schüler:innen verbringen einen erheblichen Teil ihrer Zeit online: sie unterhalten sich über Messengerdienste, scrollen durch TikTok und Instagram und kreieren vielleicht sogar eigenen Content, nutzen Streamingdienste, anstatt SuperRTL im elterlichen Wohnzimmer zu schauen, und googeln, wenn sie etwas wissen wollen. Nun wollen Jugendliche aber nicht nur wissen, was es mit der Französischen Revolution oder dem Binomialkoeffizienten auf sich hat, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, sondern sie wollen auch wissen, was Sex ist, was es bedeutet queer zu sein und wie man mit Zunge küsst.

SEXUELLE BILDUNG

... geht über Information und Prävention hinaus und unterstützt und fördert Heranwachsende bei der Entwicklung ihrer sexuellen Identität und Kompetenzen

... ist selbstbestimmt, lernendenzentriert, konkret und brauchbar, ganzheitlich, diskriminierungsfrei und demokratiebasiert umzusetzen.

... ist, analog der Demokratiebildung, schulische Gesamtaufgabe, die fächerübergreifend und auch außerunterrichtlich realisiert werden sollte.

... thematisiert u.a.: Geschlecht, Geschlechterrollen, Identität, Lust, Kommunikation, Beziehungen,Sexualpraktiken, Fortpflanzung, Entwicklung, Gesundheit, Prävention von Gewalt, Kreativität.

MEHR INFORMATIONEN IN DER HANDREICHUNG!

 

Jugendliche holen sich während ihrer Identitätsentwicklung Wissen, Erklärungen, Anleitungen und Vorbilder zu Sexualität im digitalen Raum und nutzen dafür Informations-Websites, Online-Videos, Online-Beratungsdienste und Aufklärungs-Apps (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) 2015). Dabei begegnen ihnen sowohl „Nichtfachkundige“ in OnlineForen, über YouTube oder im Peer-to-Peer Kontakt, als auch ausgebildete Fachkräfte, wie etwa über die BZgA-Kampagnen oder die Online-Sexualberatungen von pro familia (vgl. Döring 2019). Studien haben gezeigt, dass sexualbezogene Fragen vor allem mittels der Suchmaschine Google oder auf der Videoplattform YouTube eingegeben werden.

ONLINE-PORTALE ZUR SEXUELLEN BILDUNG

Loveline.de (BZgA)

Liebesleben.de (BZgA)

Sextra.de (pro familia)

Sexundso.de (pro familia)

Regenbogenportal.de (BMFSFJ)

Lilli.ch

 

Die Vorteile liegen auf der Hand. Die Heranwachsenden können zeit- und ortsunabhängig, schnell und diskret Antworten auf ihre Fragen erhalten, es stehen ihnen eine große thematische Vielfalt sowie kostenlose Beratungs- und Anregungsangebote zur Verfügung. Es muss weder mit den Eltern ein unangenehmes Gespräch geführt noch auf die wenigen Stunden „Sexualaufklärung“ im Biologieunterricht gewartet werden, in denen man doch nicht das erfährt, was man eigentlich wissen will.

Online-Pornografie – nützlich oder schädlich?

Mit Fragen und Neugierde auf der Suche nach konkreten Informationen zum Aussehen von nackten, echten Körpern und Genitalien, zu Sexualpraktiken, Stellungen und Anleitungen, reichen die Suchmasken von Google und YouTube manchmal nicht aus und die Heranwachsenden werden „gezwungen“, auf andere Plattformen zu wechseln, die explizite Inhalte zeigen.

Eine Plattform für explizite, jedoch nicht pornografische, sondern bildende Inhalte scheint dringend nötig.
So existiert seit Juni 2020 bspw. ein Video-Tutorial (Anleitung) von „The Female Company“ zur richtigen Benutzung einer Menstruationstasse (onegirlonecup.de), welches jedoch bisher nur auf Sex-Plattformen wie sexschoolhub.com, erikalust.com und getcheex.com (ursprünglich auf der in Kritik stehenden Seite pornhub.com) und nicht auf anderen Plattformen wie YouTube oder Instagram verfügbar gemacht werden kann, da diese nicht zwischen Aufklärung und Pornografie unterscheiden. Junge Menschen, die sich für die Falttechniken, das Ein- und Ausführen und die Reinigung einer Menstruationstasse interessieren, müssen also entweder auf schwerverständliche schriftliche oder verbale Erklärungen zurückgreifen oder sich auf eine Plattform für Pornografie begeben, die sie offiziell erst mit 18 Jahren benutzen dürften.

 

Circa zwei Drittel der 11- bis 17-Jährigen haben bereits Erfahrungen mit Pornografie gesammelt, wobei Jungen Pornografie deutlich häufiger und regelmäßiger nutzen. Die Heranwachsenden ziehen mediale Angebote wie Porno-Seiten als subjektiv sinnhaft erscheinende Ressource heran, um die Entwicklungsaufgabe Sexualität bearbeiten zu können. Online-Pornografie befriedigt Neugier, gibt Informationen und Anregungen, die man praktisch umsetzen kann, wenn man bereits sexuell aktiv ist, oder die einen auf den bevorstehenden ersten Sexualkontakt vorbereiten können. Neben der Nutzung als Orientierungs- und Wissensquelle, wird OnlinePornografie auch für sexuelle Erregung und Masturbation (vor allem durch männliche Heranwachsende), aber auch zur Demonstration von Souveränität beim „Gruppenkonsum“ oder zur gemeinsamen Belustigung und Abgrenzung genutzt. (Vgl. Klein 2015)

Heranwachsenden begegnen pornografische Inhalte jedoch nicht nur gewollt. Circa 12 % der 6- bis 13-Jährigen erlebten bereits ungewollte Konfrontationen mit pornografischen Inhalten und gaben an, dass der Inhalt Angst oder Unbehagen ausgelöst haben (vgl. Klein 2015). Wissenschaftlich sind zwar keine negativen Auswirkungen von Pornografie auf die Psyche oder das Verhalten Jugendlicher erwiesen, und auch die Zahl der Sexualpartner*innen ist seit 1980 nicht angestiegen, ungeschützte Sexualkontakte nehmen ab und Sexualität wird überwiegend in festen Beziehungenausgelebt (vgl. BzgA 2015), dennoch braucht es unbedingt Räume für Heranwachsende, Gesehenes besprechen zu können.

Unter www.arte.tv/de/videos/089056-000-A/jugendsex-und-internet kann noch bis zum 13.01.2022 die NDR-Dokumentation „Jugend, Sex und Internet. Wenn Teenager Pornos gucken“ abgerufen werden. (Triggerwarnung: ein diskutabler deutscher Comedian wird gezeigt.)

Pornografie-Kompetenz von Lehrkräften

Anschlusskommunikation ist hier das Stichwort. Denn auch bei der absichtlichen Nutzung können pornografische Inhalte (neue) Fragen, Irritation oder Sorgen auslösen. So stellen sich Heranwachsende Fragen zu Rollenklischees, der Beziehung von Sex und Liebe, den Merkmalen von „gutem Sex“ und idealen Körperbildern. Pornografische Medieninhalte können als Kommunikationsanlass genutzt werden, um über Unsicherheiten hinsichtlich „Schönheits-,Körper- und Begehrensnormen“ zu sprechen und die konsumierten Medien zu reflektieren. (Vgl. Klein 2015) Zugleich ist vielen Jugendlichen bewusst, dass sie im Internet nicht nur auf wahre und ausgewogene Informationen stoßen und sie haben eine gewisse Skepsis und Unsicherheit hinsichtlich der Zuverlässigkeit ihrer digitalen Quellen (vgl. Döring 2019). Eine Tabuisierung von Pornografie im schulischen Kontext erscheint daher nicht zielführend. Vielmehr sollten Lehrkräfte die Thematisierung von Fragen und Unsicherheiten der Heranwachsenden als zentrale Aufgabe im Rahmen der sexuellen Bildung begreifen. „Pornografie-Kompetenz als pädagogische Herausforderung“ muss im Sinne einer reflexiven Professionalität bearbeitet werden (Klein 2015).

Nach Döring (2011) besteht diese Kompetenz aus 5 Komponenten:

  1. Medienkunde (Produktion, Inhalte, Nutzung),
  2. Kritikfähigkeit (potenzielle Negativwirkungen)
  3. Genussfähigkeit (potenzielle Positivwirkungen)
  4. Metakommunikation und
  5. Selbstreflexion.

Unterstützung für die Ausbildung von Pornografie-Kompetenz sowie konkrete Unterrichts, Material- und Methodenvorschläge finden Lehrkräfte im Praxismaterial „Let's talk about Porno“, das von der Initiative klicksafe erstellt wurde.

Klicksafe.de

Klicksafe.de setzt seit 2004 in Deutschland den Auftrag der Europäischen Kommission um, Internetnutzer*innen die kompetente und kritische Nutzung von Internet und Neuen Medien zu vermitteln, arbeitet wirtschaftlich und politisch unabhängig und wird durch EU-Gelder kofinanziert.

Materialien und Informationen zu „Let's talk about Porno“ abrufbar unter:
www.klicksafe.de/themen/problematischeinhalte/pornografienutzung

 

Eine zentrale Empfehlung ist, dass Lehrkräfte sich mit dem Thema Pornografie bewusst auseinandersetzen und herausfinden, aus welcher Position heraus, mit welchen Werten, Einstellungen und welcher Haltung mit den Heranwachsenden gesprochen wird (hierfür steht u.a. ein Selbstreflexionsbogen zur Verfügung). Ebenso soll die Wirkung, die das Thematisieren von Pornografie auf das Kollegium und die Institution haben kann, bedacht und die Zusammenarbeit mit den Eltern* gut vorbereitet werden. Der Einbezugder Eltern*1 geschieht im Sinne des Thüringer Schulgesetzes (§47 Abs. 5 ThürSchulG) und ist auch aus pädagogischer Sicht sinnvoll,
insofern diese bestenfalls für das Thema sensibilisiert werden.

Weitere Tipps aus „Let's talk about Porno“ sind:

  • sich als Lehrkraft pornografische Websites wie redtube.com, youporn.com oder xhamster.com anzusehen, denn auch wenn es einem widerstrebt, kann man besser mit den Jugendlichen sprechen, wenn man über einen ähnlichen Kenntnisstand verfügt.
  • die Heranwachsenden indirekt anzusprechen. Also besser „Warum glaubt ihr, nutzen Menschen Pornografie?“ anstatt „Warum nutzt du Pornografie?“.
  • in geschlechtergetrennten Gruppen zu arbeiten. (Dies ist jedoch im Sinne der geschlechtlichen Vielfalt und Nichtdiskriminierung mit Vorsicht und Fingerspitzengefühl umzusetzen – siehe Abbildung 5.)
  • mit Heranwachsenden zu arbeiten, die selbstständig Interesse an dem Thema haben, was meist mit 13/14 Jahren der Fall ist.
  • den Jugendschutz zu beachten und Materialien und Inhalte danach auszuwählen.
  • jede Aussage zu Pornografie, jede Emotion und Meinung ernst zu nehmen und nicht zu bewerten, wobei die Lehrkraft ihre eigene Meinung durchaus äußern darf (immer unter Beachtung der eigenen persönlichen Grenzen), diese jedoch zwingend als subjektiv kenntlich machen muss.

Ähnliche Hinweise geben Tuider et al. in dem Materialband „Sexualpädagogik der Vielfalt“ (2012). Es wird betont, dass eine grundsätzliche Ablehnung von Pornografie seitens der Pädagog*innen kontraproduktiv für einen Dialog ist, da sich die Jugendlichen nicht verstanden fühlen und dies zu einer „Oppositions-, Provokations- oder Boykotthaltung“ führen kann. Empfohlen wird, die Heranwachsenden wissen zu lassen, dass widersprüchliche Gefühle beim Konsum von Pornografie (Erregung bis Ekel oder Angst) vorkommen können und dies normal ist. Auch können manchmal einfachste Hinweise helfen, überfordernde Situationen zu bewältigen, z.B. das konsumierte Medium bei negativen Emotionen ausschalten. Gleichwohl ist bei „aller Lockerheit“ wichtig, dass nicht der Eindruck erweckt wird, „dass Pornokonsum von Kindern und Jugendlichen völlig harmlos und der Jugendschutz […] sinnlos sei“ (Tuider et al. 2012, S. 123). Dafür stellen die Autor*innen einen Fragebogen für die Arbeit in Kleingruppen zur Verfügung, mit dem die Heranwachsenden eine kritische Sicht auf die Porno-Industrie und die Medienwelt insgesamt entwickeln, die Sinnhaftigkeit des Jugendschutzes nachvollziehen lernen und eine selbstbestimmte Sicht auf die eigene Sexualität erlangen sollen.

 


Literatur

  • Ballhaus, A.-K. (2021): Sexuelle Bildung vielfaltssensibel gestalten. Wissen, Reflexion, Methoden & Hinweise für Lehrkräfte in Sekundarstufe I und II. Fokus: geschlechtliche und sexuell-romantische Vielfalt. Thüringen. Jena: o.V.
  • BzgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) (2015): Jugendsexualität. Repräsentative Wiederholungsbefragung. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Köln.
  • Döring, N. (2011): Pornografie-Kompetenz. Definition und Förderung, in: Zeitschrift für Sexualforschung, Jg. 24, H. 3, S. 228-255.
  • Döring, N. (2019): Sexuelle Aktivitäten im digitalen Kontext. Aktueller Forschungsstand und Handlungsempfehlungen für die Praxis, in: Psychotherapeut 64, S. 374-384.
  • Klein, A. (2015): Zur These der Pornografisierung der Jugend, in: sozialmagazin. Die Zeitschrift für Soziale Arbeit, Jg. 40, H. 1-2, S. 16-25.
  • Tuider, E./Müller, M./Timmermanns, S./Bruns-Bachmann, P./Koppermann, C. (Hg.) (2012): Sexualität der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit, 2. Überarb. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Kontakt
Anne-Kathrin Ballhaus
Mitglied im Landesausschuss Diversity
Adresse Heinrich-Mann-Str. 22
99096 Erfurt