Schule als ein Zusammenspiel vieler Professionen
Thüringen. Der Bildungsfreistaat?
Die Zahlen sind bedrückend. Die ostdeutschen Bundesländer haben einen beinahe doppelt so hohen Schulabbrechendenanteil wie die alten Bundesländer. Thüringen trifft das ebenso. Der MDR berichtete am 6. März 2023, dass 8,3 % der Schülerinnen und Schüler im Jahr 2021 die Schule ohne einen Schulabschluss verlassen haben. Wenn demnach jede:r zwölfte keinen Abschluss erlangt - in einem Land, wo doch die Köpfe die vermeintlich einzige Ressource sind - dann stehen wir vor einer dramatischen Herausforderung. Wie können wir dieser Situation entgegentreten? Eines ist klar, die Antworten werden vielfältig sein und auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen müssen. In diesem Beitrag schauen wir darauf, inwiefern multiprofessionelle Teams Teil der Lösung sein können.
Warum sind multiprofessionelle Teams notwendig?
Die Einführung des Gemeinsamen Unterrichts, die zunehmende Zahl an Migrant:innen in den Schulen sowie die Zunahme unterschiedlichster individueller und familiärer Problemlagen führten und führen zu weiteren Herausforderungen insbesondere an den städtischen Schulen, die nicht ohne zusätzliches Personal anderer Professionen zu bewältigen sind. Je nach Schulart, Einzugsgebiet und Schulgröße arbeiten heute mehr oder weniger Personen an den Schulen, die nicht Lehrkräfte sind.
Ob es sich um Sprach- oder Lerndefizite, um Kinder mit traumatischen Erfahrungen, Verhaltensauffälligkeiten, um fehlende Leistungsbereitschaft bis zur Schulverweigerung oder um fehlende Verantwortungsübernahme der Eltern handelt…, ein Unterricht mit dem Ziel der Lehrplanerfüllung gerät insbesondere an Grund- und Regelschulen zunehmend ins Wanken, wenn sich die Lehrer:innen als „Einzelkämpfer“ um die bestmögliche Entwicklung jedes Kindes bemühen. Zu vielschichtig sind die Anforderungen an die Lehrkräfte.
Die Vermittlung der Lerngegenstände unter Berücksichtigung verschiedenster Differenzierungen (Anspruchsniveau nach Leistung, nach Förderplänen mit eventuellem Nachteilsausgleich, nach Sprachkenntnissen…) lässt viele Kolleg:innen am eigenen Anspruch scheitern. Lehrkräfte können sich nicht gleichzeitig um alle auftretenden Probleme im Unterricht kümmern, vor und nach dem Unterricht sind die zeitlichen Ressourcen begrenzt, auch können oder wollen Eltern betreffender Schüler:innen oftmals nicht mit der Schule an einem Strang ziehen. Eine andauernde Überforderung mündet bei immer mehr Lehrkräften in eine Krankschreibung, die Zahl der Langzeitkranken steigt stetig.
Zusätzliches Personal und Probleme gelöst?
Inwieweit bietet der Einsatz von weiteren Personen unterschiedlichster Berufsgruppen an der Schule den Lehrkräften Entlastung und mehr Möglichkeit sich auf den Unterricht zu konzentrieren? Wie lässt sich an der Schule diese multiprofessionelle Arbeit organisieren, damit die verschiedenen Professionen tatsächlich mit- statt nebeneinander und auf Augenhöhe arbeiten?
Nicht jede Lehrkraft ist begeistert, wenn sich eine weitere Person mit im Unterrichtsraum aufhält. Manche sehen dies als zusätzliche Belastung, man steht unter Beobachtung, es ist auch oftmals unklar, wer, wann, wie und in welcher Situation eingreift. Und wer hat eigentlich das Sagen?
Wer macht was?
Die unterschiedlichen Professionen bringen durch ihre Ausbildung spezifische fachliche Kompetenzen mit und haben verschiedene Zugangsweisen. Zwei Beispiele:
Während Lehrkräfte in erster Linie stringent auftreten, einen strukturierten Unterricht planen, Wissen vermitteln und für ein bestimmtes Handeln von Schüler:innen konsequente pädagogische Ordnungsmaßnahmen ergreifen müssen, gehen Sozialpädagog:innen andere Wege. Hier steht der Beziehungsaufbau an erster Stelle, die Ursachen für ein bestimmtes Verhalten werden herausgefunden und an möglichen Verbesserungen gearbeitet. Dies geschieht nicht von heute auf morgen. Das gegenseitige Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven ist nicht immer gegeben.
Der Gemeinsame Unterricht verlangt eine Zusammenarbeit von Klassen- und Fachlehrer:innen mit Förderschullehrkräften bzw. Sonderpädagogischen Fachkräften. Notwendige Kompetenzen, eine individuelle Ausgangslage (Was kann ein Kind nicht? Woran liegt es?) zu finden und darauf aufbauend individuelle Förderpläne (Wie kann es künftig besser gelingen...?) zu erstellen, bringen die Sonderpädagog:innen mit. Trotzdem stehen insbesondere auch die Klassenlehrer:innen in der Pflicht.
Für viele Fachlehrer:innen ist es nicht einfach bei gleichen Lerngegenständen individuelle Lernergebnisse so zu bewerten, dass (absolut betrachtet) für weniger Leistung eine bessere Bewertung erfolgt. Während sich die Sonderpädagog:innen um die einzelnen Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf kümmern, verliert die Fachlehrkraft bei vielen wechselnden Klassen und damit sehr vielen Schüler:innen schnell den Überblick über die Spezifik dieser Kinder. Vom Gemeinsamen Unterricht erhoffen sich nicht wenige Lehrkräfte das Herausnehmen schwieriger Schüler, damit der Unterricht ohne ständige (oder weniger) Störungen möglich ist.
Es ist notwendig, die verschiedenen Zugangsweisen zu begreifen und gemeinsam an individuellen Lösungen zu arbeiten. Dies setzt den Willen und vor allem die Zeit für eine Kooperation voraus. Zeit und Kraft, die neben oder nach dem Unterrichten, den Aufsichten, Lehrerkonferenzen, Fortbildungen, Schulentwicklungsaufgaben, Verwaltungsaufgaben, Dienstberatungen, Elterngesprächen, Austausch in Fachschaften …, kaum zur Verfügung steht. Wenn jedoch zwischen Tür und Angel nur kurz einzelne Informationen ausgetauscht werden, reicht dies nicht, um eine Basis für eine wertschätzende und gleichberechtigte Zusammenarbeit, für Verständnis der spezifischen Arbeitsweise und letztendlich für einen gelingenden inklusiven Unterricht zu legen.
Was fordert die GEW?
Grundlegende Probleme, die an den meisten Schulen die dringend benötigte multiprofessionelle Zusammenarbeit verhindern oder einschränken, müssen durch die GEW benannt und deren Lösung gefordert werden. Folgende Schwerpunkte haben wir uns in diesem Zusammenhang gesetzt:
Als erstes ist ein fundamentaler Grundsatz für die GEW entscheidend. „Ungleiches gleich zu behandeln, ist der falsche Weg.“ Die Zuweisung von Unterstützungen (Geld, Personal) muss von den Bedarfen abhängig sein und nicht mit der Gießkanne über das Land verteilt werden. Da käme ein Sozialindex zum Tragen. Anhand sozialer Kriterien müssen Bedarfe ermittelt und dementsprechend Personalzuweisungen bemessen werden. So könnten beispielsweise in Städten oder Stadtvierteln mit großen sozialen Herausforderungen die Klassengrößen reduziert oder Doppelbesetzungen ermöglicht werden.
Als GEW müssen wir trotz großen Problemen bei der Unterrichtsabsicherung auf unserer Forderung nach mehr Entlastung durch weitere Anrechnungsstunden für notwendige pädagogische Tätigkeiten neben dem Unterricht beharren. Auch die Übertragung von Verwaltungsaufgaben auf nichtpädagogisches Personal kann Freiräume für die multiprofessionelle Teamarbeit schaffen.
Aber neben fehlenden zeitlichen Ressourcen müssen wir als GEW auf bei Weitem nicht ausreichende personelle Unterstützung besonders im Gemeinsamen Unterricht hinweisen. Der derzeitige Schlüssel bei der Zuweisung kann nicht allen Schüler:innen, die Anspruch auf entsprechende sonderpädagogische Förderung haben, gerecht werden. Zudem werden sonderpädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte aus dem gemeinsamen Unterricht temporär herausgenommen um an anderer Stelle Unterrichtsausfall zu vermeiden. Viele Lehrer:innen werden in ihren Unterrichtsstunden mit der zusätzlichen Herausforderung allein gelassen.
Weitere Kritik üben wir als GEW bezüglich fehlender Kontinuität bei der multiprofessionellen Zusammenarbeit, wenn durch befristete Verträge ständig wechselndes Personal in das Kollegium integriert und neue Beziehungen zu den Kindern aufgebaut werden müssen.
Außerdem: Die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Erziehern könnte durch ein Vollbeschäftigungsangebot für die Erzieher:innen deutlich verbessert werden. Der dadurch mögliche gemeinsame Einsatz am Vormittag im Unterricht bietet u.a. den Einblick in den Leistungsstand, das Erkennen von Defiziten und Stärken, welche bei der Hausaufgabenbetreuung und der individuellen Förderung berücksichtigt werden können.
Die Bezahlung der Sonderpädagogischen Fachkräfte muss, vor allem in Bezug auf erweiterte Aufgaben, verbessert werden. Aktuell werden SPF vier Entgeltgruppen niedriger eingestuft, wie Sonderpädagog:innen. Die GEW steht in Gesprächen mit dem Ministerium, der Minister steht in dieser Frage hinter uns: E 10 für SPF!
Was kannst Du tun?
Die Herausforderungen werden zukünftig nicht geringer. Der Freistaat Thüringen kann sich die eingangs genannten Abbrechendenzahlen nicht leisten – heute schon nicht und noch weniger in der Zukunft. Die GEW Thüringen hat Antworten auf diese Herausforderungen, die wir mit Kraft und Hartnäckigkeit von der Regierung immer wieder einfordern werden.
Du bist Teil der Lösung und kannst die GEW bei ihrem Einsatz unterstützen!
99096 Erfurt

99096 Erfurt
