Aus aktuellem Anlass
Stellungnahme der GEW zu neuer Schulordnung und Kundgebung vor dem TMBWK
Schulfrieden erhalten, längeres gemeinsames Lernen schützen, Thüringer Gemeinschaftsschulen stärken!
Die geplanten Änderungen der Thüringer Schulordnung rufen neben Eltern und Schüler:innen vor allem bei Lehrkräften an den Thüringer Gemeinschaftsschulen Sorgen hervor. Deshalb rief die GEW Thüringen für den 24. März 2025 zu einer Kundgebung vor dem Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur auf, auf der Lehrkräfte, Eltern und GEwerkschafter:innen ihren Unmut über die geplanten Änderungen in der Schulordnung beim Thema Kopfnoten und Versetzungsentscheidungen zum Ausdruck brachten. Staatssekretär Dr. Althaus war bei dieser Kundgebung zugegen und hörte sich die Sorgen und Forderungen der Teilnehmer:innen an.
Beispielhaft die Rede einer Lehrerin aus Weimar:
Werter Herr Bildungsminister Tischner,
ich bin Gesine Herrmann, seit 10 Jahren Lehrerin der Jenaplanschule Weimar. Ich habe die Schule im Aufbau der Oberstufe mitformen dürfen. Seitdem habe ich hunderte Schüler:innen aktiv auf ihrem Weg zum Schulabschluss begleitet.
Nun wollen Sie die Schulordnung ändern: Noten ab Kl. 6, Versetzungsentscheidungen, Kopfnoten, weniger Rechte für die Schulkonferenz. Ich kann diese Entscheidungen nicht nachvollziehen. Bisher habe ich auch keine Argumente gehört, die mich davon überzeugen würden, dass sie pädagogisch oder gesellschaftlich geboten wären.
Da Sie also bisher nicht in der Lage waren, mir vernünftige Argumente zu unterbreiten, dachte ich, ich mache Ihnen ein paar Vorschläge:
1. Sie könnten behaupten: Noten motivieren Schüler:innen zu besseren Leistungen und geben den Schüler:innen Rückmeldung über ihre Potentiale und Defizite.
Leider entspricht das überhaupt nicht meiner Erfahrung! Bisher konnte ich keine Bildungsstudie finden, die diese These stützen würde. Stattdessen erlebe ich täglich, dass Rückmeldungen, die ohne Noten auskommen müssen, deutlich differenzierter, ausführlicher und vor allem individueller sind. Schüler:innen erhalten bei uns nicht eine Zahl unter einen Test. Sie bekommen eine Rückmeldung, welche der abgefragten Kompetenzen sie schon wie sehr beherrschen. Sie erhalten Tipps, was sie zukünftig tun können, um sich zu verbessern. Anders als bei einer Note wissen unsere Schüler:innen also, wo ihre Fähigkeiten aber auch wo ihre Defizite stecken. Aus einer Zahlennote kann das niemand ablesen.
Herr Tischner: Können Sie abstreiten, dass diese verbalen Rückmeldungen den Lernprozess deutlich mehr fördern und Schüler:innen auf ihrem Weg viel mehr unterstützen als Noten?
2. Sie könnten außerdem behaupten: Für den sozialen Vergleich zwischen Schüler:innen bedarf es Noten. Noten schaffen Vergleichbarkeit.
Ja, das ist richtig. Aber eigentlich auch nicht. Denn auch Verbaleinschätzungen ermöglichen einen sozialen Vergleich. Doch: Die viel wichtigere Frage ist: Wollen wir diesen Vergleich? Wollen wir Schüler:innen die Möglichkeit geben zu Lernen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben? Oder wollen wir Schüler:innen dazu anhalten, sich gegenseitig zu vergleichen? Meine Erfahrung zeigt: sobald Noten im Spiel sind, startet der Vergleich von ganz allein. Schüler:innen schauen mehr darauf, was die anderen haben, und weniger darauf, was sie selbst gut und was sie noch nicht so gut können. Der Blick geht weg von sich selbst, hin zum Vergleich.
Und was bringt das? Nichts: Dieser Vergleich hat nie Vorteile! Stattdessen bremst er die Schüler:innen aus, die im Vergleich eher schlechter abschneiden. Aber nicht, weil sie nicht leistungsfähig wären, sondern weil sie sich unterlegen fühlen. Dies erzeugt keine Motivation, sondern nur ein schlechtes Selbstwertgefühl. Leistungsstarke Schüler:innen hingegen wissen um diesen Zustand immer – auch ohne Noten!
Deshalb steht für mich fest: Eine Fokussierung der Leistungsbewertung auf den sozialen Vergleich ist niemals lernförderlich. Und deshalb ist das Konzept der Gemeinschaftsschule so wertvoll: Gemeinschaftsschule und Jenaplanprinzip basieren auf der Abschaffung, oder zumindest der Umgehung von Vergleich. Wir haben Wege gefunden, Unterschieden die kleinst mögliche Bedeutung zuzumessen: Ohne Eingruppierung, ohne Noten, ohne Versetzungsentscheidungen bis in bestimmte Altersklassen. Nur so kann der Blick auf das Kind manifestiert werden, auf individuelle Bedürfnisse und Stärken. Gemeinschaftsschulen leisten damit einen wichtigen Beitrag gegen die Spaltung der Gesellschaft. Hier lernen Schüler:innen aller Herkünfte und aller Leistungsstufen miteinander und voneinander. Weil unsere Erziehungsarbeit das Ziel verfolgt, ein gleichberechtigtes Miteinander zu schaffen, in dem sich alle als wertvoll betrachten!
Werter Herr Tischner: Was ist Ihnen wichtig für die Entwicklung von Kindern? Geht es Ihnen um Vergleich, ein Einsortieren nach gut oder schlecht(er)? Oder finden Sie nicht auch, dass es das Hauptziel von Schule sein sollte, dass alle Schüler:innen das Beste aus sich heraus holen, unabhängig von ihrer Herkunft?
3. Sie könnten behaupten: Nur mit Noten ist es möglich, verlässliche Entscheidungen über Versetzungen zu treffen oder Schullaufbahnempfehlungen zu geben.
Dies entspricht nicht der Wahrheit: An unserer Schule werden seit je her Empfehlungen für Schullaufbahnen gegeben, in der 4. Klasse, in der 10. Klasse und auch auf Wunsch zwischendurch. Noch nie haben wir dafür Noten benötigt. Immer hingegeben werden diese Entscheidungen im großen Gremium der Klassenkonferenz getroffen. Dort wird lang über die Fähigkeiten und Entwicklungspotentiale, über das Lernverhalten und die Leistungsbereitschaft der betroffenen Schüler:innen beraten wird. Niemals wird eine solche Entscheidung mit einem einfachen Blick auf Noten getroffen. Können Sie behaupten, dass unser bisheriger Weg zum Finden der passenden Schullaufbahn für Schüler:innen pädagogisch weniger wert wäre, als ihn einzig auf Noten in einzelnen Fächern zu gründen? Was sagen Sie, wenn ich Ihnen zurufe, dass Ihre Vorschläge unsere bisherige pädagogische Kompetenz in Frage stellen?
Und damit zum letzten Argument.
4. Sie könnten behaupten: Nur mit Noten von klein an, vielen Versetzungsentscheidungen und Kopfnoten ist ein erfolgreicher Schulabschluss möglich. Reformpädagogische Schulkonzepte, wie die Jenaplanschulen sind dabei weniger erfolgreich und deshalb müssen wir ihre Freiheiten beschneiden.
Doch wissen Sie: Seit 2017 erarbeiteten sich bei uns an der Jenaplanschule Weimar über 500 Schüler:innen einen Haupt- und/oder Realschulabschluss oder/und ein Abitur. Unsere Durchfallquote ist minimal. Die Anzahl Schüler:innen, die unsere Schule ohne einen Schulabschluss verließen, ist nahezu nicht existent. Stattdessen schaffen wir es, durch unser Konzept und die individuelle Arbeit der einzelnen Kolleg:innen, auch solche Schüler:innen zum Abschluss zu führen, die von anderen Schulen aufgegeben wurden. Jedes Jahr verlassen uns viele Schüler:innen mit einem Abitur, die zuvor einen Realschulabschluss erworben haben, oder mit einem Realschulabschluss, die zuvor einen qualifizierenden Hauptschulabschluss erworben haben. Was für tolle Leistungen! Jedes Jahr liegt der Durchschnitt unserer Abiturnoten exakt im Landesmittel, letztes Jahr sogar etwas höher. Und stellen Sie sich mal vor: Das alles schaffen wir ohne Noten bis zur 8. Klasse, ohne Versetzungsentscheidungen und ohne Kopfnoten.
Wenn wir aufnehmen könnten, wer bei uns einen Antrag stellt, würden wir aus allen Nähten platzen. So viele Eltern und Schüler:innen stimmen mit in ihren Füßen ab: für moderne Schulkonzepte und gegen das traditionelle, dreigliedrige Schulsystem. Und schließlich sollte man im Kopf behalten: Das Schulkonzept der Jenaplanschule Weimar wurde im Jahr 1993 als Schulversuch genehmigt – vom CDU-geführten Bildungsministerium. Im Jahr 2000 wurde der Schulversuch verstetigt und dies – wer ahnt es – wiederum von einem CDU-Bildungsminister.
Deshalb frage ich Sie, Herr Tischner: Können Sie rechtfertigen, dass durch CDU Bildungsminister genehmigte Schulkonzepte in ihren notwendigen Freiheiten beschnitten werden sollen? Können Sie ernsthaft verneinen, dass unser bisheriges Vorgehen ohne all Ihre tollen neuen Regeln zu erfolgreichen Schulabschlüssen führt? Können Sie bestreiten, dass, ganz im Gegenteil, unser Vorgehen viel mehr Schüler:innen zu einem erfolgreichen Schulabschluss führt?
Ich bezweifle, dass Sie auch nur eine meiner gestellten Fragen mit JA beantworten könnten. Stattdessen stellt sich heraus, dass Ihre geplanten Änderungen jeglicher pädagogischer Begründung entbehren und das Rad der schulischen Entwicklungsprozesse um Jahrzehnte zurückdrehen. Sie schränken die Autonomie der Schulen ein. Sie stellen auf schulischer Ebene getroffene, demokratische Entscheidungen in Abrede. Aber, was am schwersten wiegt, Sie behindern das erfolgreiche Lernen von Schüler:innen an Gemeinschaftsschulen: weitgehend ohne Druck und Stress, dafür in einem Miteinander, in einer wertschätzenden Gemeinschaft, mit offenen Übergängen und einer die Individualität in den Mittelpunkt stellenden Bewertungskultur. Wie können Sie also an Ihren Vorhaben festhalten?
Herr Tischner: Wenn ich eines in meinen vielen Jahren als Mutter und Lehrerin gelernt habe: Wenn einem die Argumente ausgehen, kann man anfangen herumzuschreien, oder tief durchatmen und Fehler offen eingestehen. Meine Physikraumtür steht dafür immer offen und Sie dürfen jederzeit herein kommen!
Hintergrund: Die Änderungen in der Schulordnung sehen Kopfnoten für alle und Versetzungsentscheidungen für alle ab der Klassenstufe 6 vor. Das widerspricht den von Schulkonferenzen beschlossenen und vom Bildungsministerium genehmigten Schulkonzepten. Längeres gemeinsames Lernen ist mit Versetzungen und Pflicht zur Notenvergabe nicht vereinbar. Sie gefährden die reformpädagogischen schulischen Konzepte, für die sich Pädagog:innen und Eltern ganz bewusst entschieden haben.
Im Anhang unsere Stellungnahme zum Verordnungsentwurf Thüringer Schulordnung vom 20. März 2025. Darin sind auch die gemeinsamen Vorschläge mit den Thüringer Gemeinschaftsschulen zu finden.
99096 Erfurt
