Gastbeitrag von Michael May, Professor für Didaktik der Politik an der FSU Jena
Schuldemokratie stärken ist Voraussetzung
Partizipationsrechte und Schüler*innenmitwirkung (SMW) – Ein Blick auf die Situation in Thüringen im Bundesländervergleich
„Die Schüler wirken durch gewählte Schülervertretungen entsprechend ihrem Alter und ihrer Verantwortungsfähigkeit am schulischen Leben mit“ (ThürSchulG, § 28). Dieses Zitat zeigt, dass die Schüler*innenvertretung (SV) in den Thüringer Schulen auf gesetzlicher Ebene fest verankert ist. Während das zitierte Schulgesetz den allgemeinen Rahmen der SV absteckt, wird deren Ausgestaltung in der Thüringer Schulordnung (ThürSchulO) sowie der Thüringer Mitwirkungsverordnung (ThürMitwVO) konkretisiert.
Wie in der gesamten Bundesrepublik, sind auch in Thüringen Partizipationsrechte der Schülerschaft auf Klassen-/Kurseben, auf Schulebene und auf einer überschulischen Ebene angesiedelt (Langner 2007, Palentien/Hurrelmann 2003). Für alle drei Ebenen lassen sich für Thüringen einerseits Rechte der Bildung von
Gremien und Ämtern der Schülervertretung sowie der Beteiligung an schulischen und überschulischen Gremien identifizieren, anderseits konkrete Mitwirkungsrechte im Rahmen dieser Gremien, Ämter und Beteiligungen. Folgende Zusammenstellung gibt einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen:
Ebene | Gremien, Ämter und Beteiligungen | Mitwirkungsrechte |
Klasse | Klassensprecher (gewählt durch die Klassen ab dem 3. Jahrgang oder Stammkurse) | Hauptadressat: Klassenlehrer*in |
Schule | Gremien und Ämter der Schülervertretung
Beteiligung an Schulgremien
| Hauptadressat: Schulleitung Anhörungs-, Auskunfts- und Initiativ-, Beschwerde-, Vermittlungsrecht (bei Konflikten)
Stimmrecht im Rahmen einer Drittelparität (Eltern, Lehrer*innen, Schüler*innen) |
Landkreis | Gremien und Ämter
Beteiligung an kommunalen Gremien ist gesetzlich nicht geregelt | Die zentrale gesetzliche Funktion liegt in der Bildung der Gremien und der Wahl der Ämter auf Landesebene.
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Land | Gremien und Ämter
Beteiligung an Landesgremien
| Anhörungs-, Auskunfts- und Initiativrechten in schulischen Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung
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Tab.: Übersicht über die formalen Mitwirkungsrechte von Schüler*innen in Thüringen
Wie ist die Situation der SV im Vergleich zu anderen Bundesländern einzuschätzen
Wie in allen anderen Bundesländern auch, ist die SV in Thüringen im Schulgesetz verankert. Dies dokumentiert den hohen Stellenwert, den die SV beim Gesetzgeber genießt. Betrachtet man die Ausgestaltungen genauer, lassen sich dennoch einige Unterschiede erkennen. Im Folgenden können nur die Mitwirkungsrechte auf Schulebene skizziert werden.
Auf der Schulebene ist das zentrale Gremium in Thüringen die Klassensprecherversammlung. Auch wenn die Bezeichnungen im Bundesvergleich abweichen (Schülerrat, Schülerkonferenz, Gesamtschülervertretung, Schülerbeirat, Schülervertretung) und es Abweichungen im Detail gibt (z. B. Zugehörigkeit des Schülersprechers oder der Schülersprecherin zum Gremium, Einbezug der Stellvertreter*innen), so existiert dieses Gremium in allen Bundesländern mit ähnlicher Funktion.
Ebenso bedeutsam ist in Thüringen der Schülersprecher, der seit dem Schuljahr 2012/13 direkt von allen Schüler*innen einer Schule direkt gewählt wird. In lediglich zwei Bundesländern wird der Schülersprecher (mitunter auch Schulsprecher genannte) noch obligatorisch durch die Klassensprecherversammlung gewählt (HB, NI), während zehn Bundesländern eine Wahlmöglichkeit zwischen direkter und indirekter Wahl zulassen (BB, BW, BY, HE, MV, NW, RP, SH, SN, ST) und vier Bundesländer (BE, HH, SL, TH) eine Direktwahl vorschreiben.
Über die Möglichkeiten hinaus, Gremien und Ämter der SV zu bilden, können sich die Schüler*innen in Thüringen im Rahmen der Schulkonferenz, dem wichtigsten Mitwirkungsgremium auf Schulebene, einbringen. Ein der Schulkonferenz vergleichbares Gremium existiert in allen Bundesländern. In Thüringen verfügen die Schüler*innen – wie auch in weiteren 11 Bundesländern (BB, BE, BW, BY, HH, MV, NW, RP, SH, SL, SN, TH) – über ein Drittel der Sitze und damit Stimmen. Da Lehrer*innen und Eltern ebenfalls jeweils ein Drittel der Sitze innehaben, können die Schüler*innen somit von den ‚Erwachsenen‘ majorisiert werden, aber auch zusammen mit den Eltern Mehrheiten gegen die Lehrerschaft bilden. Damit stellt sich die Situation in Thüringen schülerfreundlicher dar als in den vier Bundesländern (HB, HE, NI, ST), in denen sich Eltern und Schüler*innen die Hälfte der Gremiensitze teilen und die andere Hälfte von Lehrkräften gestellt wird – und sich die Lehrerschaft somit immer gegen Eltern und Schüler*innen durchsetzen kann (der/die Schulleiter*in verfügt über die ausschlaggebende Stimme).
Erscheint die formale Mitwirkungsmöglichkeit im Rahmen der Schulkonferenz in Thüringen also zunächst einmal zufriedenstellend, trübt sich da Bild etwas ein, wenn man auf die Rechte der Schulkonferenz schaut. In Thüringen besitzt die Schulkonferenz vornehmlich weiche Rechte der Beratung, Abstimmung und Empfehlung. Entscheidungen werden hingegen durch den/die Schulleiter*in, die Lehrerkonferenz sowie die Klassen- und Fachkonferenzen getroffen. In Niedersachsen dagegen – wo jedoch rechnerisch immer eine Lehrermajorität gegeben ist – oder in Berlin – wo es eine Drittelparität gibt – entscheidet die Gesamtkonferenz oder der Schulvorstand (NI) bzw. die Schulkonferenz (BE) über zentrale gesamtschulische Angelegenheiten.
Schaut man auf weitere schulische Gremien in Thüringen in denen die Entscheidungen getroffen werden, fällt der Freistaat im Vergleich zu vielen anderen Bundesländern zurück. Zwar können sich die Schüler*innen (und Eltern) auch in anderen Ländern in diesen Konferenzen nicht gegenüber der Lehrerschaft durch Vetorechte oder Majorität durchsetzen, sie werden aber teils beratend, teils mit Stimmrecht beteiligt. Bei Klassenkonferenzen werden in 11 Bundesländern die Schüler*innen mit Stimmrecht einbezogen (BB, BE, HB, HH, MV, N,I NW, RP, SH, SL, ST), wobei dies bei Notenfragen ausgesetzt wird (dann völliger Ausschluss oder beratende Beteiligung). In Thüringen und den restlichen Ländern (BW, BY, HE, SN, TH) bleiben die Schüler*innen dagegen gänzlich außen vor. Ähnlich ist das Bild bei den Fachkonferenzen: In 10 Ländern (SL, ST, BB, BE, BW, MV, NI, NW, RP, SH) können Schüler*innen an den Fachkonferenzen beratend teilnehmen, in Niedersachsen sogar mit Stimmrecht. In Thüringen wie in fünf weiteren Ländern (BY, HB, HE, HH, SN, TH) ist die Teilnahme an den Fachkonferenzen nicht vorgesehen.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass demokratische Mitwirkungsrechte der Schüler*innen in Thüringen strukturell begrenzt bleiben. Zum einen sind die Schülervertreter*innen in der Thüringer Schulverfassung keine Vetospieler. Sie verfügen nicht über harte Rechte jenseits von Beratung und Empfehlung. Dieses Schicksal teilen sie mit den Schüler*innen der meisten anderen Bundesländer (Ausnahmen bilden hier etwa Berlin, das für einige Entscheidungen der Schulkonferenz eine qualifizierte Mehrheit vorsieht, Bremen, das ein aufschiebendes Vetorecht für die Schüler*innen in der Schulkonferenz gegenüber der Lehrer- und Fachkonferenz kennt, sowie Hessen, das ein Vetorecht des Schülerrates bei einigen Entscheidungen einräumt – wobei die Entscheidung dann bei der Schulaufsichtsbehörde liegt). Zum anderen verfügen die Thüringer Schüler*innen im Vergleich zu den anderen Bundesländern auch über weniger weichere Rechte wie die Beteiligung an Klassen- und Fachkonferenzen, weil sie von diesen Konferenzen ausgeschlossen sind.
Wie ist die Situation einzuschätzen?
Die Mitwirkung der Schüler*innen in Thüringen ist ausbaufähig – auch wenn man anerkennt, dass Schule nicht mit einer auf Gleichberechtigung der Mitglieder gründenden Selbstverwaltungsgemeinschaft identisch ist und vornehmlich einem „erzieherischen Impetus“ (Langner 2007, S. 238) folgt, der auf einer Differenz von
Erwachsenen und Schüler*innenwelt beruht. Weitreichendere Befugnisse – wie die Beteiligung an Fach- und Klassenkonferenzen, die Verfügung über ein eigenes, bescheidenes Budget oder vielleicht sogar (aufschiebende) Vetorechte in bestimmten Situationen ab einer bestimmten Altersstufe – würden die Schuldemokratie
stärken.
SMW dient neben der Beteiligung immer auch der politischen Bildung. Eine Stärkung der Schuldemokratie könnte deshalb zudem die Bedingungen für politische Bildung verbessern. Trotz des vorbildhaften Engagements vieler SV, zeigt die Forschung, dass diese auch als „verordnete“ oder „simulierte Autonomie“ (Werner Helsper) zutage tritt, als müde Demokratieinszenierung, bei der es eigentlich nichts zu entscheiden gibt. Zugleich wissen wir, dass ein Engagement in nahräumlichen, formalisierten Mitwirkungsstrukturen wie der Schuldemokratie das Verständnis demokratischer Verfahren fördert und mit einem höheren Interesse an der Politik einhergeht (Reinhardt 2010). Die Mitwirkung von Schüler*innen kann also einen Beitrag leisten zum Brückenschlag vom lebensweltlichen zum lebensweltübergreifenden politischen Lernen. Dies ist besonders dann von Bedeutung, wenn über eine Absenkung des Wahlalters nachgedacht wird.
Für Thüringen erscheint es jenseits dieser möglicherweise ambitioniert wirkenden Impulse aber zunächst einmal angeraten, das Thema Schuldemokratie stärker in den Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses und der Aufmerksamkeit zu rücken. Über die vorgestellten rechtlichen Rahmenbedingungen hinaus wissen wir kaum etwas über die tatsächlich gelebte Mitwirkung an Thüringer Schulen. Ein Monitoring oder eine Evaluation könnte Abhilfe schaffen. SMW braucht eine professionelle Begleitung und Stützung durch die gesamte Lehrerschaft – nicht nur den‚ verantwortlichen‘ Sozialpädagogen. Ein vermehrtes Angebot einschlägiger Weiterbildungen in Thüringen
wäre hilfreich.
Zudem setzt der Sozialkundeunterricht, in dem die SMW behandelt wird, erst in der 8. Bzw. 9. Klasse ein – zu spät, um die Schüler*innen vorzubereiten. Andere Bundesländer betreiben aufwändige Internetplattformen zur SMW und publizieren Handbücher und Materialien zum Thema, die Schüler*innen und Lehrer*innen ansprechen. Auch hier hat Thüringen Nachholbedarf. Die bereits erfolgte und begrüßenswerte Schaffung von Stellen als „Koordinator*in für kulturelle und politische Bildung“ an den Schulamtsbezirken könnte hier vielleicht einen Beitrag leisten.
Zitierte Literatur
Langner, Frank (2007): Schülervertretung und politische Bildung. In: Volker Reinhardt (Hrsg.): Forschung und Bildungsbedingungen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 235–242.
Palentien, Christian; Hurrelmann, Klaus (2003): Schüler – Demokratie – ein Plädoyer für den Beginn längst fälliger Reformen. In: Christian Palentien (Hrsg.): Schülerdemokratie. Mitbestimmung in der Schule. Neuwied: Luchterhand, 3–17.
Reinhardt, Sibylle (2010): Was leistet Demokratie-Lernen für die politische Bildung. Gibt es empirische Indizien zum Transfer von Partizipation im Nahraum auf Demokratie-Kompetenz im Staat. Ende einer Illusion und neue Fragen. In: Dirk Lange und Gerhard Himmelmann (Hrsg.): Demokratiedidaktik. Impulse für die politische Bildung. Wiesbaden: VS Verlag, 125–141.
Rechtliche Grundlagen
Für die Darstellung wurden die rechtlichen Grundlagen der SMW in den Bundesländern verglichen. Einen Überblick über genutzten Materialien und ausgewählte Regelungen ist abrufbar unter: technischeunivers049-my.sharepoint.com/:w:/g/personal/m_may_uni-jena_de/EcZzAW1OEedDicWTEG2TCJkBOu1gjspEUTBVmXDT5qIWPg
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