Die von vielen erlebten schlechten Lern- und Arbeitsbedingungen sind keine direkte Folge der Inklusionsanstrengungen. Sie sind vielmehr durch eine chronische Unterfinanzierung verursacht, die es verhindert, Ressourcen so zu steuern, dass sie beim Kind und bei der professionellen Begleitung ankommen. Vor diesem Hintergrund scheinen mir die Überlegungen einer anderen Ressourcensteuerung interessant zu sein.
- Was ist das Problem?
Die Bedingungen an Schule haben sich insgesamt verschlechtert. Das liegt einerseits an einer kurzsichtigen Personalpolitik, die Nachwuchsmangel und Unterrichtsausfall produziert und die Belastungen für das vorhandene Personal stetig weiter an die ertragbare Grenze verschiebt. Zum anderen haben die Herausforderungen zugenommen: die Zahl von Armut betroffener Kinder und Jugendlicher steigt, ebenso die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund, ohne das Schulen über Konzepte verfügen, mit diesen Phänomenen umzugehen. Die Erfahrungen einer sich verändernden Kindheit durch stärkeren Medienkonsum, weniger Bewegung und immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen führen Pädagog*innen auch an die Grenzen individueller Lösungsansätze im Schulalltag.
Seitdem sich Schulen zu inklusiven Schulen entwickeln, hat sich die Zahl der begutachteten und diagnostizierten Kinder nicht etwa verringert. Im Gegenteil: Während sie an den noch existierenden Förderschulen nahezu gleich bleibt, steigt sie an den allgemeinbildenden Schulen. Wenn man davon ausgeht, dass sich zwar Lebensumstände ändern, aber damit nicht automatisch die Zahl der sonderpädagogischen Förderbedarfe steigen dürfte, kann es nur eine Schlussfolgerung geben: Schulen diagnostizieren mehr Bedarfe, um überhaupt an wahrnehmbare zusätzliche Ressourcen zu gelangen. Aus meiner Sicht ein fatales Signal.
- Was könnte in diesem Dilemma helfen?
Das Stichwort heißt Sozialindex (siehe Infokasten). Prof. Dr. Horst Weishaupt begründet dies so:
„Bildungschancen sind nicht nur an individuelle Lebenslagen gebunden, sondern auch an regionale Gelegenheitsstrukturen. Angesichts der starken räumlichen Segregation der sozialen Gruppen kommt es zu einer kumulativen räumlich-sozialen Benachteiligung im Bildungsprozess, beginnend bereits im Vorschulalter. Diese setzt sich beim Übergang von der Pflichtschulzeit in die Berufsausbildung oder dem weiteren Schulbesuch in der Sekundarstufe II fort. Dazu trägt häufig noch eine oft schlechtere Personalausstattung der sozial belasteten Kindertagesstätten und Schulen bei.“
Weishaupt sagt auch, dass sozial belastete Kindergärten und Schulen mindestens ein Drittel mehr an Personal brauchen als sozial nicht belastete Einrichtungen. Die sozialindizierte Personalzuweisung wäre ein wichtiger Baustein für eine grundsätzlich veränderte Bildungspolitik, die aktiv chancenausgleichend wirkt, inklusiv ist und damit neben sonderpädagischen Förderbedarf auch die Förderung sozial benachteiligter Kinder ermöglicht.
Die Realität, und daran wird auch das novellierte Schulgesetz zunächst nichts ändern, sieht aber anders aus. Die Höhe der Ressourcenzuweisung ist eher ein Aushandlungsergebnis zwischen Bildungs- und Finanzministerium als das Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Ressourcen werden zu häufig mit der Gießkanne auf alle Schulen verteilt, ohne Rücksicht auf die besonderen Bedarfe der Schule und der Lernenden. So ist in der Novelle zu begrüßen, dass bei Klassenbildung an allgemeinbildenden Schulen Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, mit Migrationshintergrund und Förderbedarf zum Erwerb der deutschen Sprache doppelt gezählt werden können. Wenn die Kappungsgrenze dieser Anrechnung jedoch bei zwei Kindern pro Klasse liegt, werden diese Regelungen all jenen Schulen nicht gerecht, die aufgrund ihrer regionalen Lage überproportional ebensolche Kinder aufnehmen (müssen). Und dass die Doppelzählung in der Schuleingangsphase für den Förderschwerpunkt Lernen nicht greift, ist Wasser auf die Mühlen jener, die im Gemeinsamen Unterricht und Inklusiver Schule immer noch die Schaffung der Einheitsschule sehen wollen. Da in der Schuleingangsphase keine Gutachten geschrieben werden, läuft diese sinnvolle Regelung gerade an Grundschulen leer, die in der Lage sein sollen, beste Startbedingungen für das Lernen aller Kinder bereitzustellen.
- „Ungleiches ungleich behandeln“
So heißt der Titel der im Auftrag der GEW Nordrhein-Westfalen entstandenen Studie von Prof. Dr. Gabriele Bellenberg. Ein nicht unumstrittener Titel, der aber eines deutlich macht: Wer Verteilungsgerechtigkeit will, wer die Lernmöglichkeiten und Entwicklungschancen aller im Blick haben will, wer gute Arbeitsbedingungen für alle Pädagog*innen schaffen will, muss sich auch dazu bekennen, dass unterschiedliche Herausforderungen unterschiedliche Maßnahmen benötigen. Diese Diskussion wurde aus meiner Sicht im Zusammenhang mit der Novellierung des Thüringer Schulgesetzes noch nicht ausreichend geführt. Aber es würde sich lohnen.