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Buchempfehlung

„ReformStress. Jenaer Lehrkräfte und die Transformation des Schulwesens vor und nach 1989“

Herausgegeben von Emilia Henkel und Rüdiger Stutz erschien im nunmehr 21. Band der Jenaer Stadtgeschichte im vergangenen Jahr eine Publikation mit dem Titel „ReformStress“ zu einem der diffizilsten und komplexesten Themen von Stadtgeschichte überhaupt: dem Umbruch und dem Transformationsprozess im Bildungswesen insgesamt und der Stadt Jena im Besonderen.

Erste Vorgespräche zu diesem Projekt und die Suche nach Zeitzeugen und authentischen Quellen begannen schon 2022. Unzählige Gespräche und zahlreiche Interviews schon im Vorfeld der Untersuchungen zum Thema ließen erkennen, dass man es hier mit einem äußerst komplexen und widersprüchlichen Thema zu tun hatte, dass eine große Anzahl verschiedenster und teils äußerst kontroverser Meinungen hervorbrachte und bis heute in Diskussionen und Foren stets zahlreiche Streitfragen erkennen lässt.Man möge dem Autor dieser Zeilen gestatten, einfach davon zu träumen, dass wesentliche Kernaussagen und Passagen des Bandes in die Ausbildung künftiger Pädagoginnen und Pädagogen an geeigneter Stelle ihres Studiums mit einfließen sollten. Um zu verstehen, dass jene Zeit des „ReformStress“ eine wirklich einmalige historische Periode der grundlegenden Umbrüche, des frohen Aufruhrs und Umbaus des gesamten Bildungs- und Schulwesens gewesen ist, der von den Trägern dieser Reformphase keinesfalls als „Stress“ im heutigen Sinne verstanden wurde, sondern als einmalige Lebenschance, etwas wirklich Umwälzendes zu bewirken. Eine historische Chance, die wohl nur dieser Generation geschenkt wurde und die diese m.E. mit Bravour bestand – ohne dabei auf überschrittene Arbeitszeiten und kleiner werdende persönliche Kräftereservoirs Rücksicht zu nehmen. Was notwendig war, wurde getan, was geändert werden musste, änderte man. Dies ging nur in jener historisch einmaligen und viel zu kurzen Phase zu Beginn der 1990er Jahre, wo man jene segensbringende „verordnungs- und vorschriftsfreie“ Zeit gebührlich nutzen konnte. Nicht ahnend, dass jene „goldene Zeit“ mit der baldigen Einführung tausender, jahrzehntelang sorgfältig erprobter, beamtenrechtlich „wasserdicht“ konstruierter bundesdeutscher Gesetze und Verbote schnell zu Ende war.

Genau diesen Zeitraum und diesen Veränderungsdruck hat sich das Team um Dr. Rüdiger Stutz in den Jahren 2022 bis 2024 gestellt und geplant, diesen „pädagogischen Aufbruch“ der mit einem mehrfachen „Veränderungsstress“, der nicht selten in einem Dauerstress mündete, zu erforschen und zu hinterfragen. In acht Beiträgen untersuchen die Autoren diese Problemlage der Jahre 1989 bis ca. 1994 und stellen dabei in zahlreichen Interviews Pädagoginnen und Pädagogen vor, die diesen Reformprozess in den revolutionären Zeiten der Jahre 1989/1990 und den dann folgenden Jahren erlebten und oftmals auch durchlitten. Zu Wort kommen jene, die schon in DDR-Zeiten im Schuldienst arbeiteten. Jene also, die das System so akzeptierten und unterstützten, aber auch die, die nicht selten den „politischen Spagat“ erlernen mussten, um beruflich und politisch zu überleben und auch jene, die viel später in das neue System, was wesentlich von Vorgaben der westlichen Bundesländer geprägt war, kamen.

Im Mittelpunkt stehen dabei hauptsächlich die Informationen und Handlungen Jenaer Lehrkräfte, die diesen Prozess begleiteten und vorantrieben. Der Rezensent würde sich wünschen, dass aus anderen Regionen des Landes Thüringen ebenso Berichte und Erfahrungen über jene Zeit gesammelt und veröffentlichet würden, um diesen Prozess nicht nur aus der Sicht der Universitätsstadt Jena zu interpretieren. Breit erfasst werden jene Ereignisse und Handlungen, die – durch mutige Lehrerinnen und Lehrer initiiert – dazu beitrugen, entscheidende Veränderungen auch und gerade im Bildungswesen zu erreichen. Hier ist zum ersten Mal auch der Weg aus verschiedenen Bildungsinitiativen hin zur Gründung der GEW Thüringen im Frühjahr 1990 dargestellt, den der Rezensent mitgestalten durfte (S. 82 bis 104).

Eines der bis heute interessantesten und umstrittensten Kapitel dieser Zeit war die „Überprüfung des Lehrerpersonals“ vor der Übernahme in den Dienst des neu gebildeten Freistaats Thüringen. In diesem Kapitel (S.10 bis 144) werden die Grundsätze der Überprüfungen in Thüringen als auch in Sachsen dargestellt. Eine der Erkenntnisse dieses Vorgangs ist, dass in allen der fünf „neuen Bundesländer„“ unterschiedliche Verfahren angewendet und praktiziert wurden. Allein diese Untersuchungsergebnisse regen unbedingt zum Lesen an, um sich ein differenziertes Bild über jene historisch einmaligen Vorgänge machen zu können. Ergänzt wird der Band durch umfangreiche Untersuchungen zu neu in den Schuldienst des vereinten Deutschlands eintretenden Lehrerinnen und Lehrer nach 1990, die das Bildungssystem der ostdeutschen Länder bereicherten, aber oftmals keinen leichten Berufseinstieg erfuhren. Es ist ein großes Verdienst des 2024 in den verdienten Ruhestand gegangenen Jenaer Stadthistorikers Rüdiger Stutz, sich diesen Themen mit seinem Team gestellt zu haben. Der Begriff „ReformStress“ ist somit eine gelungene Wortneuschöpfung, um diese Zeit der revolutionären Veränderungen und nachfolgender Transformationsprozesse historisch aufzuarbeiten und zu diskutieren.

Kontakt
Rüdiger Schütz
Leiter AG Schulleiter
Adresse Heinrich-Mann-Str. 22
Erfurt 99096
Telefon:  0361 590 95 0