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„Der Freistaat Bayern führt schulvorbereitende Einrichtungen wieder ein“

Dies ist nur ein Zitat von vielen Beiträgen zum Thema Inklusion, die am 2. Juni bei der GEW-Veranstaltung im Sonneneck gegeben wurden. Als Gast hatte sich der Kreisvorstand die Landtagsabgeordnete Katja Mitteldorf eingeladen, die demnächst über das Gesetz zum inklusiven Unterricht der Schüler im Freistaat Thüringen mit abstimmen wird.

„Wir möchten, dass unsere Bedenken aus der Praxis gehört werden, vor allem bei den Abgeordneten. Man kann seine Meinung sagen, aber man möchte sie oben nicht hören. Das Thema ist moralisch stark angebunden“, so die Antwort einer Kollegin auf die Frage der Abgeordneten, wie sie sich mitgenommen fühlen würde.

Seit Jahren sammeln Kolleginnen und Kollegen Erfahrungen mit dem gemeinsamen Unterricht (GU). Nicht immer gelingt das Experiment. Grund des Nichtgelingens sind u. a. die fehlenden Voraussetzungen. Es geht um die verschiedensten Fördergründe der Kinder wie Seh-, Hörschäden, gestörte geistige, soziale oder emotionale Voraussetzungen, diverse Lern- Defizite und vieles mehr. Derzeit gibt es nicht genügend Personal, Räume zum Zurückziehen für die zu fördernden Schüler und begleitenden Lehrer*innen (soweit stundenweise  vorhanden), geschweige denn Aufzüge und barrierefreien Zugang zu den Fachräumen an normalen Schulen. Auf der anderen Seite wurden und werden Fördereinrichtungen seit Jahren „aus Bedarfs- und Kostengründen“ geschlossen. Sparen wir hier nicht an der falschen Stelle? Was einmal geschlossen wurde, wird nicht wiederbelebt warnt eine Kollegin, die bereits in Rente ist. Schulschließungen der letzten 25 Jahre belegen dies auch im Kreis Nordhausen überall. Bei Kindereinrichtungen sieht es etwas besser aus – Kindergärten erweitern ihr Angebot, bauen um und an, um neue kleine Mitbürger unterbringen zu können.

Förderung und Integration werden vorgeschrieben. Doch zu welchen Bedingungen? Die engagierten Kolleg*innen aus den Förderschulen begleiten ihre Schüler*innen an diversen Grund- und Regelschulen des Kreises im fliegenden Einsatz – mal da, mal dort einige Stunden pro Woche. Und der Rest der Zeit? Haben „normale“ Schüler nicht auch ein Recht auf gute Förderung? Wenn zusätzliche Faktoren im Alltagsunterricht zu inkludieren sind, bedeutet das im Extremfall folgende Vorbereitung: Grundschule Mathematik z. B. Zahlenraum bis 1000 – eine Vorbereitung für 2 Schüler*innen mit Lernschwierigkeiten. Für die Schülerin mit Sehproblemen macht die Lehrerin Arbeitsblätter, da die Zahlen im Buch zu klein und zu unübersichtlich sind. Die begabten Schüler*innen brauchen Zusatzaufgaben, damit sie den Unterricht nicht aus Langeweile stören. Hinzu muss das Diabetikerkind ständig im Unterricht beobachtet werden. (Es gab schon Notarzteinsätze.) Förderpläne liegen in der Verantwortung des Klasseneiters. Es folgen Absprachen mit den Kolleg*innen für den gemeinsamen Unterricht, den Eltern, dem Schulbegleiter und ggf. mit dem Jugendamt. Hospitationen stehen in bestimmten Abständen an …

Eine solche Fülle von Aufgaben ist rein menschlich nicht zu bewältigen. Oder hat dies schon mal jemand von den übergeordneten Stellen ausprobiert? (Quelle: Barbara Kerschner, INKLUSION – Schule – eine Herausforderung  für uns alle, hier ein Interview mit Barbara Kerschner)

Die normale Lehrkraft an den Schulen hat keine sonderpädagogischen Kenntnisse. Deswegen braucht sie Unterstützung durch Profis, die die Eigenheiten von Kindern mit Behinderungen kennen und auf sie eingehen können. Doch von dieser Doppelbesetzung der Klassen bei inklusivem Unterricht ist die Praxis meilenweit entfernt. Es gibt Sonderpädagog*innen an den Schulen – aber nur vereinzelt. Derzeit kommen 3 – 5 Stunden Förderung pro Woche an. Den Rest der Zeit sind die Lehrkräfte auf sich allein gestellt und immer öfter auch kräftemäßig an Grenzen der eigenen Belastbarkeit angekommen.

Ein weiteres Problem wurde bei der GEW angesprochen: die Ausbildung der Förderspezialisten. Thüringen bildet hier kaum gezielt aus, die wenigen Absolventen wandern nach erfolgreichem Studium in andere Bundesländer ab, weil dort bessere Bedingungen geboten werden als zu Hause. Dies wird auch in den kommenden Jahren im Schulbereich so weitergehen, wenn die Politiker keine Rahmenbedingungen schaffen, die junge Referendare reizen, im Bundesland ihrer Ausbildung verwurzelt zu bleiben. Wie reich ist Thüringen, wenn wir gut ausgebildetes Personal ziehen lassen können? Vakante Stellen im Schulbereich werden derzeit nicht besetzt, weil das Gesamtkonzept des Freistaates nicht attraktiv genug für junge Studienabsolventen ist. Wann will man das erkennen und Fehler abstellen?

In fast allen Schulen liegt der Altersdurchschnitt der Kollegien bei 55+. In den nächsten Schuljahren gehen verstärkt Lehrer*innen in Rente. Die Zahlen sind den Politikern bekannt.  Aber was kommt nach? „Junge, dynamische Lehrer, die wir ausbilden, wandern ab. Die Klassenmesszahl liegt objektiv bei 28- 29 Kindern inklusive 6 mit Förderbedarf und 2 – 3 ausländische Kindern, die kaum der deutschen Sprache mächtig sind.“

Frau Mitteldorf regte zum Ende der Veranstaltung an, eine weitere Runde mit der Ministerin zu organisieren, bei der die Bedenken aus der Praxis an die Verantwortlichen der Politik weitergegeben werden. Die GEW Nordhausen steht dem positiv gegenüber.

Foto: Karin Greiner