Perspektive aus der Wissenschaft
Keine Konkurrenz zu den Gewerkschaften, sondern enge Kooperationspartner
Im Dezember 2024 erschien der Forschungsbericht „Potenziale von Arbeitskammern für die Weiterentwicklung der Interessensvertretung von Beschäftigten“, der im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom Institute of Labor Economics (IZA) erarbeitet wurde. Die wichtigsten Ergebnisse werden im Folgenden auszugsweise aufgeführt.
Das Wichtigste in Kürze
Dieser Bericht dokumentiert zunächst die Rolle der existierenden Arbeitskammern in Bremen, im Saarland, in Österreich und in Luxemburg und wertet bisherige Erfahrungen aus. Im Vergleich dieser Modelle zeigen sich große Ähnlichkeiten und es ergibt sich ein weitgehend konsistentes Gesamtbild:
- Die vier bestehenden Kammermodelle sind lange etabliert und gehen jeweils auf einschneidende gesellschaftliche und politische Umbruchperioden nach den beiden Weltkriegen zurück. Sie sind in ihrer jetzigen Gestalt historisch über einen sehr langen Zeitraum gewachsen.
- Pflichtmitglieder der jeweiligen Kammern sind alle abhängig Beschäftigten, inklusive Auszubildenden und geringfügig Beschäftigten, sowie teilweise auch Arbeitsuchende und Ruheständlerinnen und Ruheständler. Dabei ist Anknüpfungspunkt jeweils der Ort des Arbeitsplatzes. Es werden jeweils moderate monatliche Beiträge erhoben.
- Die organisatorisch starken Gewerkschaften oder Gewerkschaftsbünde sind in den bestehenden Kammern jeweils stark vertreten und haben so (direkt oder indirekt) einen maßgeblichen Einfluss auf die konkrete Arbeitsweise der Kammern.
- Aus den gesetzlichen Aufgaben der Arbeitskammern resultiert durchweg ein breites Tätigkeitsspektrum. Gleichzeitig ergibt sich aus ihrem gesetzlichen Auftrag und der damit verbundenen Pflichtmitgliedschaft ein umfassender Vertretungsanspruch. Zumindest potenziell führen die Kammern auf diese Weise zu einer stärkeren Beachtung nicht gewerkschaftlich organisierter und vulnerabler Gruppen.
- Die Existenz einer Kammer führt zu einer Erweiterung von organisationalen Kapazitäten und Expertise für die Interessensvertretung der Beschäftigten. Die Gewerkschaften können sich stärker auf ihr ureigenes Terrain der Betriebs- und Tarifpolitik fokussieren. Die Kammern sind keine Konkurrenz zu den Gewerkschaften, sondern agieren in der gelebten Praxis arbeitsteilig und als enge Kooperationspartner.
- Die Kammern genießen aufgrund ihrer fachlichen Expertise und sachlichen Argumentation ein hohes Ansehen bei den Sozialpartnern, also beiden Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, sowie bei der Exekutive. Sie bringen sich aktiv in die Politikgestaltung ein und tragen zu einer beschäftigtenorientierten Arbeitsmarkt- und Transformationspolitik bei.
- Die Kammerwahlen erreichen durchgängig nur moderate Beteiligungsquoten. Auf Grundlage dieser Bestandsaufnahme erfolgt eine Einschätzung der Potenziale und Gelingensfaktoren einer pflichtmitgliedschaftlichen Organisation in Gestalt von Arbeitskammern für abhängig Beschäftigte zur Schließung einer sich öffnenden „Vertretungslücke“ in der Interessensvertretung von abhängig Beschäftigten:
- Die Schaffung von Arbeitskammern ist voraussetzungsvoll. Es kann von der Notwendigkeit einer dreifachen Akzeptanz und Unterstützung ausgegangen werden: Erstens bedarf es der politischen Akzeptanz und Unterstützung in den Parlamenten, zweitens der Unterstützung seitens der Gewerkschaften sowie drittens der Akzeptanz in der Zielgruppe, also seitens der Beschäftigten als den (künftigen) Mitgliedern bzw. Kammerangehörigen.
- Nach Ansicht mancher Expertinnen und Experten ist es auch vorstellbar, Kammern in Regionen mit geringerer gewerkschaftlicher Organisation oder in größeren Flächenstaaten zu errichten, soweit dies auf entsprechende politische und gewerkschaftliche Unterstützung trifft und in geeignete Organisationsstrukturen mündet.
Vergleichende Analyse
Insgesamt lässt sich auf der Grundlage von Literatur und Hintergrundgesprächen ein konsistentes Bild der bestehenden Kammermodelle zeichnen. Eine vergleichende Analyse entlang der in den Fallstudien dargestellten Dimensionen zeigt eine große Ähnlichkeit der bestehenden vier Kammermodelle. Grundsätzlich ähneln sich die Kammern im Saarland, in Bremen, Luxemburg und Österreich trotz Abweichungen im Detail im Hinblick auf ihre Entstehungsgeschichte, ihren inneren Aufbau, ihr Aufgabenspektrum und bei der Stellung innerhalb des jeweiligen politischen Arrangements sowie im Verhältnis zu den Gewerkschaften. Besonderheiten wie die Wahl der Vertreter im Saarland über den Landtag, die Fokussierung auf Politikberatung und Weiterbildung anstelle von Mitgliederberatung in Luxemburg oder der föderale Aufbau in Österreich berühren nicht die Grundlogik der Kammern. […]
Verhältnis zu Gewerkschaften
Aus dem Aufbau und den Wahlverfahren innerhalb der Kammern ergibt sich, dass die jeweils stärksten Gewerkschaften (oder stärksten innergewerkschaftlichen Fraktionen) die Gremien in den Arbeitskammern dominieren und über vielfältige institutionelle und personelle Verflechtungen die Grundlinien der Kammerarbeit innerhalb der gesetzlichen Rahmensetzung beeinflussen. Damit führt die Existenz einer Kammer zu einer Erweiterung der organisatorischen Kapazitäten und der Expertise für die Gewerkschaften. Diese können sich ihrerseits tendenziell stärker auf ihr eigenes Terrain der Betriebs- und Tarifpolitik fokussieren, während Beratung, Analysen und Politikberatung (bzw. die fachliche Unterstützung gewerkschaftlicher Positionierungen) vermehrt an die Kammern übertragen werden können. Über die Pflichtmitgliedschaft und die Beitragsfinanzierung der Kammern kommt es zu einer Ausweitung und Stabilisierung der Ressourcen für die organisierte Arbeitnehmerschaft angesichts langfristig rückläufiger Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften. Somit kommt es zu einer Stabilisierung von umfassenderen Kapazitäten für Analyse, Politikberatung, aber auch Weiterbildung und Beratung unabhängig vom Organisationsgrad der Gewerkschaften. Dieses Maß an Expertise könnte von den Gewerkschaften allein nicht in diesem Umfang aufgebaut und vorgehalten werden.
Damit erlaubt die Existenz einer Kammer eine Konzentration der Gewerkschaften auf bestimmte Kernaufgaben als mobilisierungs- und konfliktfähige Organisationen auf nationaler, sektoraler und betrieblicher Ebene. Den Kammern als staatlich eingerichteten Körperschaften kommt hingegen eine andere Rolle im Gefüge sozialpartnerschaftlicher Institutionen als den Gewerkschaften zu. Somit sind die Arbeitskammern keine Konkurrenz zu den Gewerkschaften, sondern enge Kooperationspartner. Die Arbeitskammern sind aber kein Ersatz für Gewerkschaften als zentralem Akteur auf betrieblicher und sektoraler Ebene mit der notwendigen Mobilisierungs- und Konfliktfähigkeit.
In den Ländern bzw. Bundesländern mit Kammern lässt sich ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad beobachten, wobei keine Konkurrenz zur gewerkschaftlichen Organisation, sondern eine eingespielte Arbeitsteilung erkennbar ist. Generell kann eine Koexistenz von hohen Organisationsgraden in den auf freiwilligem Beitritt basierenden Gewerkschaften und den pflichtmitgliedschaftlich begründeten Körperschaften der Arbeitnehmerkammern beobachtet werden (Schulten und Behrens 2023). Arbeitskammern können unter Umständen die Neigung zum Gewerkschaftsbeitritt verstärken, vor allem, wenn bestimmte Leistungen weiterhin den Gewerkschaften vorbehalten bleiben und die Kammern im Einzelfall an die Gewerkschaften verweisen. Hier lassen sich teilweise Überlappungen und Doppelstrukturen, aber auch Abgrenzungsbemühungen beobachten, etwa beim Rechtsschutz (vor allem in Österreich), bei Weiterbildungsangeboten oder bei der Beratung und Schulung von Betriebsräten.