Zum Inhalt springen

Stellungnahme zum Papier „Lehrermangel in Thüringen?“ von Prof. Merten, Uni Jena

Kein Lehrkräftemangel in Thüringen, weil die Lehrer:innen zu wenig unterrichten?

Diese Stellungnahme zu Professor Mertens Behautpungen hat der Geschäftsführende Vorstand in seiner Sitzung am 7. Februar 2023 einmütig beschlossen. Kommentarfunktion freigeschaltet!

Symbolbild - Foto: Canva Pro

Liebe Kolleg:innen,

die Titelseiten von TA und TLZ haben am Montag viele von Euch entsetzt und verletzt. Ganz sicher habt Ihr eine schnelle Reaktion Eurer GEW Thüringen erwartet. Zu Recht.

Wir haben uns dennoch entschieden, nicht in einen reflexartigen Empörungsmodus zu verfallen, wie es andere gemacht haben. Das hätte Prof. Dr. Merten nur gefreut.

Der auslösende Artikel bezog sich auf ein von Prof. Dr. Merten veröffentlichtes Papier „Lehrkräftemangel in Thüringen? – Daten und Fakten zu einem emotional(isiert)en) Thema“. Dieses Papier musste zunächst von uns gelesen und verstanden werden, um eine qualitative Stellungnahme abgeben zu können. Als GEW Thüringen stehen wir für eine sachliche Debatte. Das Papier ist jedoch kein Debattenbeitrag, sondern nur geeignet, Eure Arbeit und Eure Belastungen abzuwerten und Euch die Verantwortung für Unterrichtsausfall und Lehrkräftemangel in die Schuhe zu schieben.

Wir stärken Euch nicht nur den Rücken, wir stellen uns auch vor Euch, wenn Ihr auf derlei Weise angegriffen werdet!

Diese Stellungnahme hat der Geschäftsführende Vorstand in seiner Sitzung am 7. Februar 2023 einmütig beschlossen.

Mit gewerkschaftlichen Grüßen

Kathrin Vitzthum
Landesvorsitzende der GEW Thüringen

 

Hier unsere Stellungnahme zum Papier „Lehrermangel in Thüringen?“ von Prof. Merten, Uni Jena, im Wortlaut:

Prof. Merten, Uni Jena, wollte mit seinem Papier „Lehrermangel in Thüringen?“ Daten und Fakten und vor allem Lösungen zu einem emotional(isiert)en Thema präsentieren. Leider ist ihm das nicht gelungen. Mit der pauschalen Verunglimpfung, Lehrkräfte würden sich wie in einem Selbstbedienungsladen durch Abminderungsstunden ihrer Unterrichtsverpflichtung entziehen, trägt er nicht dazu bei, das Problem des realen Lehrermangels auch nur im Ansatz zu lösen. Die Art und Weise, wie der Autor sich über Lehrkräfte äußert, weisen wir deutlich zurück. Weniger pauschale Kritik, dafür mehr Differenzierung und vor allem die Anerkennung der schulischen Realitäten wären für einen sinnvollen Debattenbeitrag einträglicher gewesen.

Die GEW Thüringen hat von Prof. Merten mehr erwartet. Er war von 2009 bis 2014 Bildungsstaatssekretär, in einer Position mit viel Gestaltungsspielraum, was die Verbesserung der überwiegend schlechten Arbeitsbedingungen der Thüringer Lehrer:innen betrifft. Diesen Gestaltungsspielraum hat er leider unzureichend genutzt, womit er an der aktuellen Misere nicht ganz unschuldig ist.

Die GEW Thüringen hofft, dass der Autor die Arbeitszeit- und Arbeitsbelastungsstudien der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität Göttingen kennt. Nachweislich hat sich das Pflichtstundenmodell in der Gestaltung der Arbeitszeit von Lehrkräften seit der Kaiserzeit kaum verändert, mal ein paar Pflichtstunden mehr, mal ein paar weniger. Schon immer aber gehörte ein kaum definierter Teil von Aufgaben in das Tätigkeitsprofil von Lehrkräften. So zu tun, als wäre dies das Ergebnis der Entledigung von Unterrichtsverpflichtungen, ist mindestens unseriös, wenn nicht ahnungslos. 

Zudem machen die Studien deutlich: die Arbeitszeit von Lehrkräften ist mess- und damit auch eingrenzbar – also etwas, was die Thüringer Lehrer:innen und auch die GEW Thüringen seit langer Zeit einfordern. Laut der Studie „Niedersächsische Arbeitsbelastungsstudie 2016: Lehrkräfte an öffentlichen Schulen“ ist davon auszugehen, dass sich die Arbeitszeit von Lehrkräften wie folgt aufteilt: 35% Unterricht (inkl. betreuende Aufsicht), 27% unterrichtsnahe Lehrarbeit, 7% Funktionen und 31% weitere Tätigkeiten. Die sonstigen (außerunterrichtlichen) Verpflichtungen und Tätigkeiten werden als unabdingbar vorausgesetzt und nehmen mittlerweile ein Drittel und mehr der Gesamttätigkeit ein. Das aber ignoriert der Autor.

So benennt er beispielsweise auf Seite 43 des Papiers diese in der Realität umfangreichen und vielfältigen Aufgaben in nur zwei Zeilen. Und auf Seite 48 schreibt er: „Mit anderen Worten: Thüringer Lehrerinnen und Lehrern wird zur Bestreitung ihrer sonstigen Aufgaben ein deutlich größerer Teil der Arbeitszeit eingeräumt, als dies für die Durchführung von Unterricht vorgesehen ist.“ Weiß er es nicht besser? Macht der Autor das aus Absicht oder aus Unkenntnis?

Die Ausführungen zur wöchentlichen Arbeitszeit (40 Stunden pro Woche) sind schlichtweg falsch. Wir hoffen, dass der Autor sehr wohl weiß, dass die unterrichtsfreien Tage, die nicht Urlaubsanspruch sind, in die Unterrichtszeit umgelegt werden und Lehrkräfte in Vollzeit daher eine wöchentliche Arbeitszeit von bis zu 46 Stunden ableisten. Die weiter oben erwähnte Studie zeigt deutlich, dass schulartübergreifend eine höhere IST-Arbeitszeit als SOLL-Arbeitszeit erreicht wird, die allerdings häufig nicht dem konkreten Unterricht zugutekommt.

Nicht zuletzt mangelt es dem Papier an etlichen Differenzierungen. Die Schüler:innenzahl unterscheidet sich deutlich zwischen Städten und ländlichem Raum. Die Schülerschaft ist heterogener geworden, sozialökonomische Herausforderungen verteilen sich ungleich auf die Schulen und Schularten. Es ist messbar heterogener geworden, als es Anfang der 1990er Jahre der Fall war. In der Folge verteilen sich die sozialökonomischen Herausforderungen ungleich auf die Schulen und die Schularten. Ebenso unterschlägt der Autor die Wirkungen der Beschulung von Schüler:innen mit Migrationshintergrund, die Anforderung an die inklusive Beschulung im Gemeinsamen Unterricht findet kaum Beachtung und die Belastungen der Corona-Pandemie ebenso. Wenn man undifferenziert betrachtet, kommen nur pauschale, aber damit leider unzutreffende Schlussfolgerungen heraus.

Der Geschäftsführende Vorstand der GEW Thüringen hat sich mit den vorliegenden Daten und Fakten und den Ableitungen daraus befasst. Es ist bedauerlich, dass neben durchaus interessanten Anregungen das Fazit auf einen pauschalen Vorwurf an alle Lehrkräfte hinausläuft. Wir weisen das aus den genannten Sachgründen und in Verantwortung für unsere Mitglieder und für alle Lehrkräfte zurück. Es ist peinlich, wie der Autor die Augen vor der hohen Belastung der Lehrkräfte verschließt, die Zahl der Langzeitkranken ausblendet und den Lehrkräften eine zweckwidrige Verwendung der ihnen zustehenden Anrechnungsstunden unterstellt.

Mit diesem Unverständnis und dieser Unkenntnis der Arbeit der Lehrer:innen beschädigt der Autor leider einen der schönsten Berufe, der Zukunft gestaltet und möglichst allen Kindern und Jugendliche Entwicklungsmöglichkeiten bietet.

Kontakt
Kathrin Vitzthum
Landesvorsitzende
Adresse Heinrich-Mann-Str. 22
99096 Erfurt
Telefon:  0361 590 95 12 (Sekretariat)
Kommentare
Name: Roland Bamberg
Vielen Dank
Vielen Dank für diese sehr fundierte und sachliche Reaktion auf den unverschämten Artikel von Prof. Merten. Zunächst war ich zunächst überrascht, keine Reaktion der GEW dazu in der TA zu finden, wo sich einige bereits empört über diesen Artikel gemeldet hatten. Eure heutige Pressemitteilung, die hoffentlich morgen in der TA im vollen Wortlaut steht, findet meine völlige Zustimmung. Es war vielleicht doch besser, zunächst zu analysieren und dann mit konkreten Fakten zu reagieren. Wichtig ist mir auch die Feststellung, dass Prof. Merten die Situation an den Schulen total verkennt. Und dass schon seit der Überstülpung der Inklusion an allen Schulen ohne die entsprechenden Voraussetzungen.
09.02.2023 - 11:16
Name: Martina Weyrauch
Rückenstärkung für die Lehrerinnen und Lehrer
Nachdenken, Recherchieren, Analysieren und klare Stellungnahme - das zeichnet die GEW Thüringen aus! Danke an alle, die an diesem fundierten Beitrag mitgewirkt haben. Ich bin sehr dankbar und beeindruckt, in welch klarer Form ihr euch schützend vor die Lehrerinnen und Lehrer stellt. Erst gestern erlebt: Neun Kollegen sind am Morgen im Lehrerzimmer, elf Klassen wollen unterrichtet werden - das ist oftmals unser Alltag... Solch eine öffentliche Ohrfeige, wie sie der o.g. Artikel für die vielen engagierten und fleißigen Pädagogen darstellt, ist da völlig deplatziert!
09.02.2023 - 17:14
Name: Anders, Olaf
Herr Merten
Ein großes Dankeschön für eine besonnene, fundierte, sachliche und durchaus hilfreiche Reaktion auf diesen von Ignoranz, Arroganz und erschreckender Realitätsferne geprägten Beitrag bezüglich der derzeitigen Situation an unseren Schulen und in den Kollegien - und dabei auch noch von Seiten eines doch ehemals mitverantwortlichen Bildungspolitikers. Ich bin angesichts solcher Unterstellungen und Niederträchtigkeiten eines bisher doch anerkannten Wissenschaftlers gegenüber uns Lehrern beschämt und wütend, auch im Zusammenhang mit den umfangreichen und fundierten Anstrengungen der Uni Jena bezüglich der notwendigen inhaltlichen und strukturellen Veränderungen in Lehrerbildung. Kontraproduktiver konnte ihr Beitrag nicht sein, sehr geehrter Prof.Dr. Merten
09.02.2023 - 18:27
Name: Thomas Hübner
„Lehrermangel in Thüringen?“ von Prof. Merten
Auch wenn ich einzelne Punkte des Merten-Papiers nachvollziehen kann, wie z.B. das Hinterfragen mancher Abminderungsstunden (nicht der Altersabminderung, die es im Gegenteil auch in anderen Berufen mit hoher Belastung geben sollte) und auch Ländervergleiche, wenn sie Besonderheiten beachten, legitim finde - bin ich einigermaßen fassungslos, aus welcher Höhe, mit welcher Arroganz hier ein ehemals politisch Verantwortlicher die gesamte Lehrerschaft und ihre Interessenvertretungen vorzuführen versucht. Als bestünde nicht sowieso ein Problem der Attraktivität des (tatsächlich auskömmlich vergüteten) Lehrerberufs in seinem schlechten Image bei der Bevölkerung, wird hier populistisch jedes negative Klischee bedient. Sich als von Untis (elektronischer Stundenplan), dem Bemühen, die Digitalisierung des Unterrichts sinnvoll(!) umzusetzen und einer zunehmend schwierigen Klientel gehetzter Pädagoge mit hohem Vor- und Nachbereitungs- sowie Verwaltungsaufwand ausgerechnet von einem echten Top-Verdiener mit völliger beruflicher Gestaltungsfreiheit (maximal 4 SWS Unterrichtsverpflichtung bei 15 (Wintersemester) plus 14 (Sommersemester) Wochen, das heißt 116 * 45 Minuten = maximal 87 Stunden unterrichtender Tätigkeit pro Jahr (sic!) mit geringem Vorbereitungsaufwand), derart blöd kommen lassen zu müssen, ist schon ein starkes Stück. Dass der Herr sich dabei noch erdreistet, mit billigen rhetorischen Tricks die zu erwartende Kritik zu delegitimieren, ist der Gipfel der Herablassung.
09.02.2023 - 19:52
Name: Anja Siebeneicher
Stellungnahme zum Papier von Prof. Merten, Uni Jena
Herzlichen Dank für die Stellungnahme der GEW, die mir sehr den Rücken stärkt! Danke, dass ihr in Zahlen auch die Tätigkeiten benennt, die neben unserer "sichtbaren" Zeit im Unterricht anfallen und von jedem Lehrer in Teil- und Vollzeit ausgeführt werden müssen. Danke! Vielleicht überzeugten (= Konjunktiv II) Professor Merten mehrere schulartübergreifende Schulbesuche und mehrwöchige Arbeitsphasen, in denen er selber in Vollzeit und unter realen, sprich unseren täglichen Arbeitsbedingungen, unterrichtet, gut - vielleicht ... Bitte bleibt bei diesem Thema am Ball!
09.02.2023 - 22:04
Name: Alex Rosen
Prof. Merten
Ich danke Ihnen für Ihre aktive Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer in Thüringen und wünsche Ihnen viel Kampfkraft und Ausdauer, denn ich habe den Eindruck, dass Sie nicht gegen einzelne Skeptiker kämpfen, sondern gegen eine politische Strömung, die die Allgemeinheit hierzulande an den Rand des Abgrunds zu treiben droht. Es ist viel über die Demontage der Wirtschaft diskutiert worden. Die Demontage des Bildungssystems verläuft eher latent. Aber man fragt sich schon, ob es sich lohnt, eine Ausbildung zum Lehrer zu machen? Es könnte immerhin zu einer allgemeinen Beruhigung kommen, wenn niemand mehr als Lehrer an Thüringer Schulen arbeiten will.
10.02.2023 - 20:21
Name: Beate Hasler
Papier von Prof. Merten
Mein Fazit, Herr Prof. Merten, ist: Dieses wissenschaftlich anmutende Papier ist nicht mehr als eine unterhaltsame Zahlenspielerei mit durchaus gerechtfertigten Denkansätzen und einigen nützlichen Informationen. Ungeeignet jedoch als Hilfe für notwendige Veränderungen, weil Texte und Zahlen oft praxisfremd verfasst bzw. interpretiert sind. Wie soll eine „kluge und fachlich kompetente Schulleitung“ mit dem Rotationsprinzip arbeiten, wenn z.B. bei Langzeiterkrankungen nicht einmal für jede Klasse ein Klassenleiter eingesetzt werden kann? Warum betonen Sie wiederholt, dass derzeit und auch im Fall einer Pflichtstundenzahlanpassung der größte Zeitanteil weiterhin außerhalb des Unterrichts liegt? Müsste nicht gerade in diesem Bereich überprüft werden, was wirklich (nicht) erforderlich ist? Wir wollen nämlich viel lieber mit Kindern und Jugendlichen arbeiten! Nach einigen Worthülsen wie „Führungsklugheit und –stärke einer Schulleitung“ ergießt sich schließlich die rot hinterlegte Abwatsche einer ganzen engagierten Berufsgruppe. Vielleicht nicht ganz so plump wie einst bei Gerhard Schröder, aber mit dem gleichen Effekt. Für einen evtl. angedachten Teil 2 dieser Abhandlungen könnte ich mir „Entwicklung des Krankenstandes im Lehrerberuf – Fakten, Entwicklung, Lösungsansätze“ vorstellen. Das Fazit würde ich wohl zuerst lesen. Sollte ich mal viel Zeit haben, errechne ich, wieviel Minuten Herr Merten in den Jahren seiner politischen Verantwortung zur Verfügung hatte, um die derzeit bedenklichen Zustände zu verhindern oder wenigstens zu mildern. Einen herzlichen Dank an die GEW für die besonnene Reaktion!
13.02.2023 - 15:04
Neuer Kommentar