- Fragen und Vorbehalte
Ich bin mit verschiedenen Kolleg*innen, die bisher nicht an einer GTS arbeiten, aber auch mit Eltern zum Vorhaben des Ministeriums ins Gespräch gekommen. Die ersten Gedanken und Fragen zum Ausbau der GTS laut neuem Schulgesetz waren bei einigen:
Heißt das jetzt, ich muss als Lehrer*in dann bis zum späten Nachmittag noch Unterricht, Arbeitsgemeinschaften, Hausaufgabenbetreuung … anbieten? Wann soll ich dann noch meine Vorbereitungen machen? Wann kann ich mich dann um meine eigenen Kinder kümmern, gerade als Lehrer*in dachte ich, Beruf und Familie gut vereinbaren zu können. Und: Was ist mit den Schüler*innen, die am Nachmittag gar nicht in der Schule bleiben wollen, weil sie zu Hause essen wollen, privat zum Sportverein, in Musikschulen oder zur Nachhilfe gehen? Oder die in Ruhe zu Hause (mit Eltern) Hausaufgaben machen und lernen wollen?
Schulleiter*innen überlegen: Woher soll ich das Personal, die Stunden nehmen? Die 10 Stunden für GTS reichen doch hinten und vorn nicht. Die derzeit möglichen Honorarverträge für Nicht-Lehrer sind neben dem bürokratischen Aufwand und vielen rechtlichen Stolpersteinen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Kolleg*innen, die zusätzlich zu ihrem vollem Unterricht nachmittags eine AG über die Schuljugendarbeit für z.B. 10,-Euro/Stunde anbieten, gibt es immer weniger, Kraft und Zeit reichen nicht. Auch fanden sich teilweise nicht genug oder dauerhaft interessierte Schüler*innen.
Andere Kolleg*innen und insbesondere Eltern dachten in eine andere Richtung: Ja, in Klasse 5 und 6 wäre es schön, wenn die Schulen grundsätzlich eine Nachmittagsbetreuung anbieten würden, so eine Art Hort. Aber es dürfte dann nicht immer verpflichtend sein, damit die Kinder auch einem privaten Hobby nachgehen können. Eltern würden dann doch sicher an den Kosten für die Nachmittagsbetreuung
beteiligt? Da würde man erst mal sehen, was dies kostet.
- Ganztagsschule erhöht die Bildungschancen
Aber auch für ältere Kinder könnte es ein Gewinn sein, wenn es vermehrt Bildung und Betreuung auch am Nachmittag geben würde. Die GEW fordert genau das, weil Ganztagsschulen die Bildungschancen besonders der Kinder und Jugendlichen verbessern, die aus einem bildungsfernen Elternhaus kommen. Deren Eltern sich keine private Nachhilfe, Mitgliedschaften in Vereinen leisten können oder wollen. Aber auch Schüler*innen, deren Eltern beruflich sehr eingespannt sind, die vielleicht auch keine Betreuung durch Großeltern absichern können, würden davon profitieren. Die Eltern können ihrer Arbeit beruhigter nachgehen, müssen sich und ihren Kindern keinen abendlichen Stress wegen der Hausaufgabenerledigung und dem Lernen machen und haben so tatsächlich mehr Zeit für ihre Kinder.
- Definition von Ganztagsschulen und Freiwilligkeit
Die Gedanken der Eltern und Kollegen sind sehr differenziert und aus dem jeweiligen Blickwinkel haben meines Erachtens alle Argumente ihre Berechtigung. Und es gibt sicher noch mehr für und gegen den „ganzen Tag“ in der Schule. Es wird aber auch deutlich, dass oft unklar ist, was sich hinter dem Begriff „Ganztagsschule“ verbirgt und was der Unterschied zwischen offener, teilgebundener und gebundener GTS ist. Deshalb ist es gut, dass im neuen Schulgesetzein Paragraph zur GTS aufgenommen werden soll, in dem die Angebote konkret beschrieben werden (Begriffsklärung) sowie die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen vor Ort ein jeweiliges Angebot vom Schulträger eingerichtet werden kann.
Kann, aber nicht muss: Ziel beim Ausbau von Ganztagsschulen ist nicht die verpflichtende Einrichtung einer GTS an allen Schulen! Eine GTS wird bei personellen und sächlichen Voraussetzungen der Schule, den Bedürfnissen der Schüler*innen und dem Wunsch der Eltern ermöglicht. Für Eltern, die keine GTS mit verpflichtender Teilnahme an den Angeboten für ihr Kind wünschen, sollen regional alternative Schulangebote vorgehalten werden, die möglicherweise höheren Beförderungskosten gehen zu Lasten der Träger der Schülerbeförderung. Damit sind einige der oben genannten Befürchtungen unnötig.
Wie werden Ganztagsschulen und deren verschiedenen Formen im neuen Schulgesetz definiert? Im neuen § 10 „Ganztagsschule, Außer-unterrichtliche Angebote“ finden wir dazu im Abs. (1):
„Ganztagsschulen verbinden auf der Grundlage eines Ganztagsschulkonzeptes Bildung, Betreuung und Förderung zu einer pädagogischen und organisatorischen Einheit, sie können offen, teilgebunden oder gebunden geführt werden.“
Näher erläutert wird im Abs. (6) , dass eine offene GTS freiwillige Teilnahme an den Angeboten bedeutet, eine teilgebundene Form eine Teilnahmeverpflichtung für ein Schuljahr und die gebundene Form eine generelle Verpflichtung der Teilnahme an den Ganztagsangeboten. Auch diese Aussagen machen einige Bedenken gegenstandslos. Für verschiedene Bedürfnisse und unterschiedliche Vorstellungen vom Umfang der Betreuung gibt es Möglichkeiten.
- Was bleibt, was ist außer der Begriffsklärung neu in das Schulgesetz aufgenommen worden?
Für die Schüler*innen der Primarstufe (Grundschule oder Gemeinschaftsschule) besteht in Thüringen laut Gesetzentwurf § 10 Abs. (2) weiterhin von Montag bis Freitag der Anspruch auf Bildung, Betreuung
und Förderung von 10 Stunden unter Anrechnung der Unterrichtszeit. Der Besuch dieser Schulhorte ist freiwillig und entspricht damit einer „offenen Ganztagsschule“, die Grundschulen in Thüringen bisher auch waren, aber durch den Begriff „Hort“ nicht als solche wahrgenommen wurden. Mit der Novellierung des Gesetzes soll der Begriff „Ganztagsschule“ geschärft werden.
Für Schüler*innen, die das Ganztagsangebot einer Schule in gebundener Form, also mit verpflichtender Teilnahme an den Ganztagsangeboten, wahrnehmen, gilt dieser Anspruch mit dem Besuch der Schule als erfüllt. Die Eltern werden in diesem Fall finanziell entlastet, in der Höhe, wie sie bisher für den freiwilligen Hortbesuch belastet waren.
Weiterführende Schulen können laut Abs. (4) ebenfalls als offene Ganztagsschulen geführt werden. Bisher wurde die Möglichkeit des Ganztagsangebotes auf die Klassenstufen 5 und 6 beschränkt. Neu ist im Abs. (4) aufgeführt, dass der Schulförderverein Angebote im schulischen Leben unterstützen kann.
Möchte eine Schule verpflichtende Angebote einführen, sind folgende Aussagen im Gesetzentwurf § 10 Abs. (5) zu den rechtlichen Voraussetzungen zu beachten:
„Schulen können auf Antrag des Schulträgers nach Zustimmung der Schulkonferenz bei Bedarf als Ganztagsschulen in teilgebundener oder gebundener Form geführt werden, soweit die organisatorischen, personellen und sächlichen Voraussetzungen vorliegen. Über den Antrag entscheidet das für das Schulwesen zuständige Ministerium. Dem Antrag ist ein geeignetes Ganztagsschulkonzept der Schule beizufügen, das auch den Bedarf der Einrichtung als Ganztagsschule begründet.“
Hier wird deutlich, dass Wert auf Qualität der Ganztagsbetreuung gelegt wird. Ohne ausreichend qualifiziertes Personal, Räume, Material … ist gute Bildung, Förderung und Betreuung nicht möglich. Die Eltern wollen ihre Kinder in guten Händen wissen, erwarten berechtigt für eine eventuell notwendige Beteiligung an den Kosten für außerunterrichtliche Angebote auch ein angemessenes Niveau.
- Fazit: Zustimmung der GEW zur Ganztagsschule, aber …
Es wird auch künftig keine Verpflichtung geben, aber dort, wo die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind und die Kolleg*innen, Eltern und der Schulträger dies wünschen, kann eine GTS in einer mehr oder weniger verpflichtenden Form geschaffen werden. Die Eltern können dann die individuellen Vorstellungen mit dem Schulkonzept abgleichen und die geeignete Schule auswählen. Aus Sicht der GEW kann dem Gesetzentwurf in den Teilen zur Ganztagsschule zugestimmt werden.
Nur reicht allein die gute Absicht nicht! Wenn bei teilgebundener und gebundener Form das Ministerium über einen Antrag zu entscheiden hat, wird es für manches Vorhaben schwierig. Das Ministerium entscheidet unter Ressourcenvorbehalt, eine zahlenmäßige Festlegung soll es nicht geben. Fest steht, für den zusätzlichen Personalbedarf steigen die Kosten für das Land. Wenn das Finanzministerium ein Budget dafür vorhalten würde, stellt sich die Frage: Woher soll das qualifizierte Personal kommen? An den Grundschulen werden schon jetzt immer mehr Erzieher*innen ohne entsprechende Ausbildung eingestellt, jeder „Kopf“ zählt. Nach wie vor sind der geringe Beschäftigungsumfang, der geteilte Dienst und ein Gehalt unter denen der kommunalen Kindergärten kein Zeichen von Gewinnungsinteresse. Anrechnungsstunden für Absprachen, Vor- und Nachbereitung sowie für Unterstützung nicht ausgebildeter Erzieher*innen sind notwendig. Unterricht und Hort dürfen nicht nebeneinander geplant werden, wenn beides tatsächlich eine organisatorische Einheit bilden soll.
Kinder, die Förderung benötigen, müssen auch am Nachmittag gebildet und betreut werden, welche Kolleg*innen mit welchen Ausbildungen sollen dies leisten? Inklusion kann man nicht halb machen! Genauso problematisch wie an Grundschulen sieht die Personalsituation an weiterführenden Schulen, insbesondere an den Regelschulen, aus. Um entsprechende Angebote nachmittags anbieten zu können, sind mehr Geld, mehr Stunden und mehr Personal notwendig. Wir brauchen in Thüringen dringend weitere Maßnahmen, um junge Menschen für den Beruf des Lehrers zu gewinnen und in ausreichender Anzahl auszubilden! Die Kollegien brauchen junge Menschen, die die umfangreiche Schulentwicklung zu Ganztagsschulen mittragen wollen und können und in Angriff nehmen.
Solange die personellen und sächlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind und oft der Unterricht noch nicht einmal abgedeckt werden kann, wird der Ausbau von Ganztagsschulen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen nicht mitgehen. Auswirkungen einer solchen Finanz- und Bildungspolitik werden die ganze Gesellschaft in der Zukunft belasten. Und das wird noch teurer.
Deshalb richtet sich die Hauptforderung der GEW an das Finanzministerium:
Bildung. Weiter denken! Mehr Geld für die Thüringer Bildung!