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Ist Behinderung ein Bildungsthema innerhalb des Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre?

Ein Gespräch über den Stellenwert von Behinderung, die nötigen Rahmenbedingungen für eine inklusive Schule und den Anteil der GEW mit den Konsortiumsmitgliedern Prof. Dr. Bärbel Kracke (Friedrich-Schiller- Universität Jena), Prof. Dr. Ada Sasse (Humboldt-Universität zu Berlin) und Michael Wiegleb, M.A. (Friedrich- Schiller-Universität Jena).

  •  Kennt der Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre (TBP 18) Behinderung(en)?

Konsortium: Im Bildungsverständnis des Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre ist ein breites ‚Normalitätsverständnis‘ enthalten: Zum ‚Normalzustand‘ einer Gesellschaft gehört Konsens darüber, dass Menschen unterschiedlich sind. Sie unterscheiden sich in den unterschiedlichsten Bereichen; beispielsweise in ihren Interessen, ihren körperlichen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten und Möglichkeiten, in ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität. Einige dieser Ausprägungen können das Risiko für Diskriminierungen und Ausgrenzungserfahrungen erhöhen. Einige Formen von Verschiedenheit können einen großen Einfluss auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen haben, indem sie bestimmte Entwicklungen erleichtern oder erschweren. So ist z. B. die sozioökonomische Situation der Herkunftsfamilie ein zentraler Aspekt sozialer Vielfalt: Es gibt Kinder und Jugendliche, die in sozial privilegierten Situationen aufwachsen – oder unter den Bedingungen harter Armut. Insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche mit Armut konfrontiert sind, ist der Zugang zu Bildungsangeboten oft erschwert. Hier ergibt sich aus der Vielfalt ggf. ein besonderer Unterstützungsbedarf.

Vielfalt meint jedoch auch unzählige andere Facetten des gesellschaftlichen und sozialen Lebens. Für das Bildungsverständnis des Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre ist zentral, dass auf jeden Menschen verschiedenste Facetten von Vielfalt zutreffen, die miteinander wechselwirken und die sich im Verlauf der Biographie fortlaufend verändern. Beim Nachdenken über die Bildung von Kindern und Jugendlichen sollte also nicht jeweils ein Merkmal (Geschlecht, Migrationshintergrund, Bildungsstand der Eltern etc.) herausgegriffen und zur Beschreibung eines Menschen herangezogen werden. Wenn z. B. Lehrpersonen wissen, dass Mädchen im Durchschnitt weniger Interesse an Physik haben als Jungen, dann muss das keineswegs für alle Schülerinnen zutreffen. Im Einzelfall zählt hier die Individualität und die ist mit äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmalen ganz sicher nicht erschöpfend beschrieben. Hier gilt es für pädagogisch Tätige sensibel zu sein für eigene Vorurteile. Einseitige Zuschreibungen können Kinder und Jugendliche frustrieren und Potentiale verschließen. Deshalb müssen Etikettierungen vermieden und Vielfalt als komplexes Phänomen verstanden werden. In Bezug auf den Begriff ‘Behinderung’ folgt das Bildungsverständnis des Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre der fachwissenschaftlich allgemein anerkannten Position, dass Menschen nicht aufgrund möglicher körperlicher oder psychischer Besonderheiten behindert sind. Beeinträchtigst sind vielmehr die Austauschprozesse zwischen dem Mensch und seiner Umwelt. Behinderung entsteht, wenn die Umwelt nicht auf spezifische Unterstützungsbedürfnisse eingeht, die benötigt werden, um nach den jeweils individuellen Möglichkeiten an der Gesellschaft teilzuhaben. 

  • Also gibt es für den TBP 18 keine Behinderung oder Hochbegabung?

Konsortium: Auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen kennt den Begriff ‘Behinderung’. Dieser Begriff ist erforderlich, um über spezifische gesellschaftliche und soziale Situationen nachdenken und sie bewältigen zu können. Wir benötigen diesen Begriff nicht zur Kategorisierung von Menschen, sondern zur Strukturierung von Unterstützung. Wenn man generell erst zehn Etagen Treppensteigen muss, um Lebensmittel zu kaufen, dann fällt dies sicher vielen Menschen schwer und für manche ist es gar unmöglich. Behinderung im pädagogischen Sinn beschreibt also eher die Passung zwischen Mensch und Umwelt (Gesellschaft). Was als Behinderung wahrgenommen und erlebt wird, hängt dann also auch von der Unterstützung und Anpassung des Umfeldes ab.

Im Bildungskontext ist es wichtig, Entwicklungsrisiken und individuelle Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu erkennen. Nur so können angemessene Bildungssettings für alle Kinder und Jugendlichen gut gestaltet werden. Dies gilt letztendlich aber für alle Menschen. Behinderung ist hier wieder nur eine Facette von Vielfalt, die der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen nicht gerecht wird: Niemand ist auf seine Behinderung ‘reduzierbar’; Behinderung ist nur ein Teil seines alltäglichen Lebens und seiner Biographie. Menschen mit Behinderung sind in erster Linie Menschen mit unterschiedlichen Talenten, Interessen, Ideen und Träumen. Der Begriff der Behinderung als alltagssprachlicher Begriff birgt das Risiko, dass der Facettenreichtum der einzelnen Persönlichkeit nicht wahrgenommen wird, insbesondere dann, wenn nicht nur von Behinderungen, sondern auch von ‘den Behinderten’ die Rede ist. Solche Fragen sind für pädagogisch Tätige sowie Kinder und Jugendliche gleichermaßen von Bedeutung. 

  • Da klingt an, dass Behinderung von Menschen auch ein Bildungsthema innerhalb des TBP 18 ist? Wo kommt sie genau vor?

Konsortium: Die Kategorie ‘Behinderung’ – wie Fragen von Vielfalt generell – taucht im Bildungsplan vor allem unter zwei Gesichtspunkten auf: Erstens als Teil pädagogischer Professionalität: Um gute pädagogische Arbeit zu leisten, muss man sich mit Fragen von Vielfalt und den Umgang damit auseinandersetzen. Hierzu gehört Behinderung – als eine von zahlreichen weiteren Formen von Vielfalt (Heterogenitätsdimensionen). Zum zweiten sind diese Fragen auch ein zentrales Thema von Bildungsprozessen. Es ist entscheidend, dass sich Kinder und Jugendliche damit auseinandersetzen, wie wir in unserer Gesellschaft mit Vielfalt (z. B. mit körperlicher oder geistiger Behinderung) umgehen wollen. Die Entwicklung von Akzeptanz und Empathie ist hierbei ein wichtiges Element, um eine lebenswürdige Gesellschaft zu gestalten. Auf diese Fragen wird vor allem im zivilgesellschaftlichen Bildungsbereich eingegangen. Aber auch für die eigene Identitätsentwicklung ist die Auseinandersetzung mit diesen Fragen bedeutsam. Wie gehe ich mit meiner eigenen Individualität
um? Wie kann ich Selbstbewusstsein entwickeln?

  • Ein Bildungsanspruch von Kindern und Jugendlichen ist demnach, auf die aktuelle Gesellschaftslage vorbereitet zu werden, um in ihr bestehen zu können? Oder ist es eher Aufgabe der Gesellschaft, Hürden und Behinderungen abzubauen und darauf bereitet der TBP 18 vor?

Konsortium: Beides: Mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen hat sich die Bundesrepublik darauf verpflichtet, in allen Bereichen der Gesellschaft für
Barrierefreiheit zu sorgen: nicht nur im Bereich der Bildung, sondern beispielsweise auch in den Bereichen Arbeit und Wohnen. Deshalb ist die Gesellschaft in der Pflicht, Hürden abzubauen und auf die Bedürfnisse von Menschen einzugehen. Kinder und Jugendliche haben aber im Verständnis des Bildungsplans einen Anspruch darauf handlungsfähig zu werden, also die Welt um sich herum möglichst gut zu verstehen und sie mitgestalten zu können. Dies ist ein wichtiges Ziel von Bildung. Dies bedeutet übrigens auch: Allen Kindern und Jugendlichen darf ein gemeinsames Aufwachsen mit Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung behindert sind, nicht vorenthalten werden!

Gesellschaft befindet sich zudem immer im Wandel. Im Bildungsverständnis des Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre geht es deshalb in den Bildungsprozessen von heute darum, für eine Zukunft auszubilden, deren Herausforderungen wir noch nicht genau kennen können. Deshalb stehen in Bezug auf Bildung vor allem Selbstständigkeit und verantwortliches Handeln im Mittelpunkt. Letzten Endes prägen die Bildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen heute die Gesellschaft von morgen mit. Wenn wir also eine Gesellschaft gestalten wollen, die mit Vielfalt wertschätzend umgeht, kann dies nur dann geschehen, wenn Kinder und Jugendliche heute die verschiedensten Formen von Vielfalt kennenlernen und sie als ‘normal’, als dazugehörig schätzen lernen. 

  • Das eigentliche Problem ist demnach nicht die Existenz von Vorurteilen sondern der Umgang mit ihnen?

Konsortium: Vorurteile sind immer auch Teil unserer Wahrnehmung, der dazu dient Komplexität zu reduzieren und die Welt fassbar zu machen. Würden wir dies nicht tun, würde uns die Vielzahl der Informationen völlig überfordern und wir könnten keinerlei Entscheidun treffen. Bei Vorurteilen vermischt sich dies oft mit Fehlinformationen und Gefühlen. Vorurteile werden demnach immer bestehen, die Frage ist also tatsächlich eher, wie man damit umgeht. Weil sich Vorurteile aus diesem Grund nicht vollständig vermeiden lassen, muss ein relevantes Bildungsziel darin gesehen werden, Vorurteilssensibilität zu entwickeln. Es geht also darum, eigene Vorurteile nicht einfach abzustreiten, sondern sie zu erkennen, sie zu reflektieren und das eigene (pädagogische) Handeln entsprechend anzupassen: So muss eine Lehrkraft im pädagogischen Alltag sich selbst beispielsweise befragen können: Traue ich zum Beispiel Julia eine bestimmte Aufgabe nicht zu, weil es sie tatsächlich überfordern würde oder weil ich (möglicherweise unbewusst) Mädchen weniger zutraue? Ein solch vorurteilssensibles Handeln ist sowohl in Bildungsinstitutionen als auch in der Gesellschaft generell wichtig. 

  • Wie können die Schulen auf diesen Anspruch reagieren?

Konsortium: Erwachsene, die Lern- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen begleiten können einen vorurteilssensiblen Blick auf die Welt durch ihre pädagogische Professionalität stärken: 
Durch differenzierte Reflexion des pädagogischen Alltags. Hierbei geht es nicht darum Lehrpersonen bloßzustellen, sondern für die Wirkungen und die Bedeutung ihres eigenen Handelns, ihre Sprache,
ihrer Methoden zu sensibilisieren.

In Bezug auf Inklusion und gemeinsamen Unterricht werden eben solche Anforderungen an die Schule und an die in ihr Tätigen gestellt: Körperliche Barrieren sind mit guten Hilfsmitteln leicht zu überwinden. Eine Rampe für Kinder zu bauen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ist noch relativ einfach möglich. Die wirklichen Herausforderungen ergeben sich im pädagogischen Bereich, beispielsweise bei Kindern mit Schwierigkeiten in der emotional-sozialen Entwicklung. Hier geht es um die Schaffung von Barrierefreiheit in einem anderen Sinn und hier benötigen Schulen natürlich personelle Unterstützung und entsprechende Ressourcen, vor allem in der Fortbildung und in der Schulentwicklung. Es ist aber auch wichtig, die Haltungen der Lehrkräfte in den Blick zu nehmen sowie die Gestaltung des pädagogischen Alltags. Dazu gehört die schülerorientierte Gestaltung des Unterrichts, die Zusammenarbeit mit anderen Professionen im und
außerhalb des Unterrichts, intensive Elternarbeit. Inklusive Schulen haben neben auch andere Professionen, deren Kompetenzen in das Kollegium eingebunden werden müssen, damit alle konstruktiv zusammenarbeiten können. Wichtig ist, dass Schulen angesichts der Herausforderungen, die sich nicht nur wegen der Inklusion, sondern wegen der steigenden Vielfalt der Schülerschaft ergeben, nicht aufgeben. Sie müssen sich trauen, vor allem in Bezug auf die Gestaltung von Unterricht, neue Wege zu gehen. Gute Beispiele gibt es dafür im Land Thüringen. Schulen können sich Beratung holen, die sich ganz genau auf ihren speziellen Fall einlässt. Anregungen zur inklusiven Schulentwicklung finden sich beispielsweise auf der Internetpräsenz der ‘Thüringer Forschungs- und Arbeitsstelle für Gemeinsamen Unterricht’. 

  • Was kann die GEW tun?

Konsortium: Die GEW als große Bildungsgewerkschaft hat nicht nur eine berufsständische Verantwortung für ihre Mitglieder, sondern als Organisation auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Sie trägt aktiv dazu bei, die UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen nicht nur bekannt zu machen, sondern sie auch tatkräftig umzusetzen.

Die GEW ist in besonderem Maß ein relevanter Akteur in der Diskussion um schulische Inklusion. Zum einen, wenn es um den gemeinsamen Unterricht von SchülerInnen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf geht. Zum anderen, wenn es darum geht, mit der Heterogenität der Lehrerschaft in Bezug auf Gesundheit, Motivation, Alter umzugehen. Als Gewerkschaft, die die Interessen von Lehrpersonen vertritt, muss sie sich natürlich für die Unterstützung der Lehrkräfte bei diesem Entwicklungsprozess einsetzen. Dabei wäre ein Fokus auf gute Aus- und Weiterbildung für inklusionsbezogene Themen (z. B. Diagnostik, Arbeit in multiprofessionellen Teams) wichtig. Aber auch Lehrergesundheit durch Kooperation in der Unterrichtsvor- und Nachbereitung wäre ein wichtiges Thema.

Sie kann auf Tagungen und in Veröffentlichungen Beispiele gelingender Inklusion vorstellen, derer es inzwischen viele gibt – zum Beispiel im Rahmen des Deutschen Schulpreises oder des Jacob-Muth-Preises. Sie kann wissenschaftliche Erkenntnisse zu schulischer Inklusion vorstellen. Insgesamt kann sie damit zu einer stärkeren Rationalisierung der Diskussion über Inklusion beitragen. Zugleich kann sie eine Haltung unterstützen, die die Umsetzung anerkennender Lernumgebungen unterstützt. Dies würde sowohl den Schülerinnen und Schülern als auch den Lehrerkollegien insgesamt nützen. In Wahrnehmung ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung kann die GEW in der Öffentlichkeit die Position stärken, dass der kompetente Umgang mit Vielfalt eine Schlüsselkompetenz für das Leben in der zukünftigen Gesellschaft darstellt – und dass diese Kompetenz besonders gut in guten inklusiven Schulen und in exzellentem inklusivem Unterricht erworben werden kann!

  • Vielen Dank.
Kontakt
Marcel Helwig
Team Referatsleitung Gewerkschaftliche Bildungsarbeit und Mitgliederbetreuung
Adresse Heinrich-Mann-Str. 22
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