- Kennt der Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre (TBP 18) Behinderung(en)?
Konsortium: Im Bildungsverständnis des Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre ist ein breites ‚Normalitätsverständnis‘ enthalten: Zum ‚Normalzustand‘ einer Gesellschaft gehört Konsens darüber, dass Menschen unterschiedlich sind. Sie unterscheiden sich in den unterschiedlichsten Bereichen; beispielsweise in ihren Interessen, ihren körperlichen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten und Möglichkeiten, in ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität. Einige dieser Ausprägungen können das Risiko für Diskriminierungen und Ausgrenzungserfahrungen erhöhen. Einige Formen von Verschiedenheit können einen großen Einfluss auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen haben, indem sie bestimmte Entwicklungen erleichtern oder erschweren. So ist z. B. die sozioökonomische Situation der Herkunftsfamilie ein zentraler Aspekt sozialer Vielfalt: Es gibt Kinder und Jugendliche, die in sozial privilegierten Situationen aufwachsen – oder unter den Bedingungen harter Armut. Insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche mit Armut konfrontiert sind, ist der Zugang zu Bildungsangeboten oft erschwert. Hier ergibt sich aus der Vielfalt ggf. ein besonderer Unterstützungsbedarf.
Vielfalt meint jedoch auch unzählige andere Facetten des gesellschaftlichen und sozialen Lebens. Für das Bildungsverständnis des Thüringer Bildungsplans bis 18 Jahre ist zentral, dass auf jeden Menschen verschiedenste Facetten von Vielfalt zutreffen, die miteinander wechselwirken und die sich im Verlauf der Biographie fortlaufend verändern. Beim Nachdenken über die Bildung von Kindern und Jugendlichen sollte also nicht jeweils ein Merkmal (Geschlecht, Migrationshintergrund, Bildungsstand der Eltern etc.) herausgegriffen und zur Beschreibung eines Menschen herangezogen werden. Wenn z. B. Lehrpersonen wissen, dass Mädchen im Durchschnitt weniger Interesse an Physik haben als Jungen, dann muss das keineswegs für alle Schülerinnen zutreffen. Im Einzelfall zählt hier die Individualität und die ist mit äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmalen ganz sicher nicht erschöpfend beschrieben. Hier gilt es für pädagogisch Tätige sensibel zu sein für eigene Vorurteile. Einseitige Zuschreibungen können Kinder und Jugendliche frustrieren und Potentiale verschließen. Deshalb müssen Etikettierungen vermieden und Vielfalt als komplexes Phänomen verstanden werden. In Bezug auf den Begriff ‘Behinderung’ folgt das Bildungsverständnis des Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre der fachwissenschaftlich allgemein anerkannten Position, dass Menschen nicht aufgrund möglicher körperlicher oder psychischer Besonderheiten behindert sind. Beeinträchtigst sind vielmehr die Austauschprozesse zwischen dem Mensch und seiner Umwelt. Behinderung entsteht, wenn die Umwelt nicht auf spezifische Unterstützungsbedürfnisse eingeht, die benötigt werden, um nach den jeweils individuellen Möglichkeiten an der Gesellschaft teilzuhaben.
- Also gibt es für den TBP 18 keine Behinderung oder Hochbegabung?
Konsortium: Auch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen kennt den Begriff ‘Behinderung’. Dieser Begriff ist erforderlich, um über spezifische gesellschaftliche und soziale Situationen nachdenken und sie bewältigen zu können. Wir benötigen diesen Begriff nicht zur Kategorisierung von Menschen, sondern zur Strukturierung von Unterstützung. Wenn man generell erst zehn Etagen Treppensteigen muss, um Lebensmittel zu kaufen, dann fällt dies sicher vielen Menschen schwer und für manche ist es gar unmöglich. Behinderung im pädagogischen Sinn beschreibt also eher die Passung zwischen Mensch und Umwelt (Gesellschaft). Was als Behinderung wahrgenommen und erlebt wird, hängt dann also auch von der Unterstützung und Anpassung des Umfeldes ab.
Im Bildungskontext ist es wichtig, Entwicklungsrisiken und individuelle Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu erkennen. Nur so können angemessene Bildungssettings für alle Kinder und Jugendlichen gut gestaltet werden. Dies gilt letztendlich aber für alle Menschen. Behinderung ist hier wieder nur eine Facette von Vielfalt, die der Gesamtpersönlichkeit eines Menschen nicht gerecht wird: Niemand ist auf seine Behinderung ‘reduzierbar’; Behinderung ist nur ein Teil seines alltäglichen Lebens und seiner Biographie. Menschen mit Behinderung sind in erster Linie Menschen mit unterschiedlichen Talenten, Interessen, Ideen und Träumen. Der Begriff der Behinderung als alltagssprachlicher Begriff birgt das Risiko, dass der Facettenreichtum der einzelnen Persönlichkeit nicht wahrgenommen wird, insbesondere dann, wenn nicht nur von Behinderungen, sondern auch von ‘den Behinderten’ die Rede ist. Solche Fragen sind für pädagogisch Tätige sowie Kinder und Jugendliche gleichermaßen von Bedeutung.
- Da klingt an, dass Behinderung von Menschen auch ein Bildungsthema innerhalb des TBP 18 ist? Wo kommt sie genau vor?
Konsortium: Die Kategorie ‘Behinderung’ – wie Fragen von Vielfalt generell – taucht im Bildungsplan vor allem unter zwei Gesichtspunkten auf: Erstens als Teil pädagogischer Professionalität: Um gute pädagogische Arbeit zu leisten, muss man sich mit Fragen von Vielfalt und den Umgang damit auseinandersetzen. Hierzu gehört Behinderung – als eine von zahlreichen weiteren Formen von Vielfalt (Heterogenitätsdimensionen). Zum zweiten sind diese Fragen auch ein zentrales Thema von Bildungsprozessen. Es ist entscheidend, dass sich Kinder und Jugendliche damit auseinandersetzen, wie wir in unserer Gesellschaft mit Vielfalt (z. B. mit körperlicher oder geistiger Behinderung) umgehen wollen. Die Entwicklung von Akzeptanz und Empathie ist hierbei ein wichtiges Element, um eine lebenswürdige Gesellschaft zu gestalten. Auf diese Fragen wird vor allem im zivilgesellschaftlichen Bildungsbereich eingegangen. Aber auch für die eigene Identitätsentwicklung ist die Auseinandersetzung mit diesen Fragen bedeutsam. Wie gehe ich mit meiner eigenen Individualität
um? Wie kann ich Selbstbewusstsein entwickeln?