Zum Inhalt springen

Inklusion ja, aber nicht so! Interview mit Barbara Kerschner.

45 Jahre arbeitete sie als Lehrerin, davon 19 Jahre am Regionalen Förderzentrum -L- in Schmalkalden. Ihre Erfahrungen hat sie nun in einer Broschüre zusammengefasst.

Aufgrund Ihrer Erfahrungen als Lehrerin im Rollstuhl und Ihrem Umgang mit erkrankten Kolleg*innen wurde sie zur Schwerbehindertenvertrauensfrau gewählt. In ihrem letzten Dienstjahr arbeitete sie 4 Stunden in Abordnung in einer Grundschule im gemeinsamen Unterricht. Ihre Erfahrungen hat sie in einer Broschüre zusammengefasst. 

  • Was war Deine Motivation, diese Broschüre zu schreiben?

Die Diskussionen, um die Erfüllung der UN-Behindertenrechtskonvention ließen mich nachdenklich werden. Je mehr geredet wurde, je höher die Ansprüche wurden, je weniger Gelder zur Verfügung gestellt wurden, je größer die Belastung der Kolleg*innen wurde und je mehr Kolleg*innen erkrankten, desto mehr reifte in mir der Gedanke, darüber zu schreiben. Als ich merkte, dass die Ausländerpolitik die Probleme an den Schulen zurückdrängte, war für mich der Zeitpunkt gekommen. 

  • Hast Du ausschließlich Deine eigenen Erfahrungen reflektiert und aufgeschrieben oder hast Du als Rentnerin noch einmal in den Schulen hospitiert?

Da mir der Gedanke nicht aus dem Kopf ging, habe ich in den letzten Wochen meiner Dienstzeit Kolleg*innen über ihre Probleme bezüglich der Inklusion befragt. Alle Befragten wollten aus Angst vor dienstrechtlichen Konsequenzen anonym bleiben. Ich habe im Internet gesucht, wie Inklusion anderswo umgesetzt wird. Und Zufälle, wie Bekanntschaften mit Persönlichkeiten, so z. B. mit einer Hochschuldozentin aus der Schweiz und Österreich, erweiterten meine Erkenntnisse erheblich. 

  • Welche Haupterkenntnisse hast Du gewonnen?

Inklusion ja, aber nicht so! Ich bin als Lehrerin im Rollstuhl vollinkludiert worden, weil ich mich als Erwachsene einbringen konnte. Ein Kind oder ein Jugendlicher kann das nicht. Inklusion auf dem Rücken der Kinder und Kolleg*innen auszutragen, geht gar nicht. Es fehlen ständige Zweitbesetzungen in den Klassen. Die Behinderungsarten sind sehr vielfältig und die Lehrer*innen sind keine Mediziner. Sie dürfen im Notfall nicht eingreifen. Sie müssen ärztliche Hilfe anfordern. Die Lehrer*innen dürfen keine Pflegearbeiten tun, wie zum Beispiel wickeln, Medikamente verabreichen usw. Nichts ist geklärt. Die Erkenntnis ist die, dass inkludierte Schüler*innen oft aus dem Gemeinsamen Unterricht von den Kolleg*innen herausgenommen werden, um erstens die anderen Schüler*innen nicht zu stören und zweitens, um mit dem Kind aus der Förderschule konzentrierter zu arbeiten. Am schlimmsten ist für mich die Tatsache, dass ein geistig behindertes Kind an der Förderschule fürs Leben lernt. Keine andere Schulart kann es sich aus Zeit- und Personalkosten leisten, mit dem Kind das Kochen, Putzen, Essen, Waschen usw. zu erlernen. Es ist eine Scheininklusion. 

  • Du sitzt selbst im Rollstuhl. Welche Rollespielte diese Beeinträchtigung für DeineBeschäftigung mit dem Thema Inklusion?

Meine Körperbehinderung spielte eine große Rolle. Ich habe den Einblick, wie beschaffen die Schulen für Kinder mit Körperbehinderungen sind. Es gibt hier Defizite. Es kann z. B. nicht sein, dass neu gebaute Schulen einen Fahrstuhlschacht haben, aber keinen Fahrstuhl. Eine Behindertentoilette ist vorhanden und der Zugang ebenerdig. Ich bin dann auf meinem Po die Treppen rauf. Das ist keine Satire, sondern traurige Realität. Das ist kein Einzelfall. Meine Broschüre beschreibt mehrere Fälle. Nicht jede Schule muss körperbehindertengerecht sein, aber betroffene Kinder sollten nicht allzu weit entfernt von zu Hause die Möglichkeit einer Beschulung haben. Inklusion kostet viel Geld. Davon möchte man nichts hören. Ohne Geld funktioniert es nicht. Wer das Eine möchte, muss das Andere mögen. 

  • Was wünscht Du Dir im Hinblick auf die Inklusionan Thüringer Schulen?

Ich wünsche mir, dass Inklusion an Schule neu überdacht und überprüft wird. Ich wünsche mir, dass viele Kolleg*innen ihre jahrelangen Erfahrungen einbringen können.Ich wünsche mir, dass die Wünsche der Eltern berücksichtigt werden. Ich wünsche mir, dass immer zugunsten des Kindes entschieden wird. Ich wünsche mir, dass Schule für alle Freude bereitet und nicht zur Last und gesundheitlicher Bedrohung für Kinder und Kollegen*innen wird. Ich wünsche mir, dass viele Kolleg*innen meine Einstellung zur Inklusion an Schule lesen und mich verstehen.

  • Vielen Dank!

 

Die Broschüre kann hier bezogen werden:

Barbara Kerschner
Schmückestr. 61
98528 Suhl
Telefon/Fax: 0 36 81 · 421 739
E-Mail: bkerschner(at)web(dot)de 

Kontakt
Dr. Michael Kummer
Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Adresse Heinrich-Mann-Str. 22
99096 Erfurt
Telefon:  0361 590 95 22
Mobil:  0151 1063 2902