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Gastbeitrag

Hundert Welten zu entdecken

Die Möglichkeiten der Bildungsfreistellung am Beispiel einer Bildungsreise von Erzieher:innen nach Norditalien erklärt.

Staunende Teilnehmer:innen aus Deutschland

Es ist Dienstag kurz nach 9 Uhr in einem kleinen Ort in der norditalienischen Po-Ebene. In der kommunalen „Schule der Kindheit“ trifft sich ein Gruppe von Kindern zum täglichen Morgenplenum und bespricht den Tag. Im Nebenraum erforscht bereits eine andere Gruppe eine Rose. Am Rand stehen Erzieher:innen aus Deutschland, beobachten und staunen, wie konzentriert und ernsthaft die Kinder forschen. Mittwochnachmittag in den Räumen der ReMida: Die städtische Recyclingannahme sammelt industrielle Abfallprodukte und stellt sie Kindereinrichtungen für ihre Arbeit zur Verfügung. Umgeben von Pappschachteln, Knöpfen, Garnrollen, Plastikscheiben, Papierstapeln und Metallröhren werden die Erzieher:innen selbst zu Forschenden. Ihr Auftrag: Aus den Materialien in Kleingruppen ein Buch erstellen und damit eine Geschichte erzählen. Ich stehe am Rand und staune, wie konzentriert und ernsthaft die Erwachsenen forschen. Die geschilderten Szenen sind nur zwei Eindrücke eines Bildungsfreistellungsseminars, welches das DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. in Kooperation mit der GEW und ver.di in den letzten Jahren organisiert hat. Unter dem Titel „,Die hundert Sprachen der Kinder‘ - Vorschulpädagogik in Reggio Emilia“ war eine Gruppe von Kolleg:innen aus dem Bereich der frühkindlichen Bildung in Norditalien. Denn vor Ort kann man am besten etwas über die zugrundeliegenden theoretischen Überlegungen (etwa das Menschenbild oder die Form der Projektarbeit) erfahren und sich zugleich die Bildungspraxis in Kinderkrippen (asili nido) und Kindergärten (scuola die infanzia) ansehen. Dabei erfahren die Teilnehmenden auch, wie sehr die Entstehung der Pädagogik mit der Geschichte der Region verbunden ist. Denn es war nicht der Pädagoge Lovis Malaguzzi, der den Reggio-Ansatz erfand. Vielmehr ist es ein Ergebnis der kollektiven Bemühungen der Frauen, die nach dem Sieg über den italienischen Faschismus 1945 Kindereinrichtungen haben wollten, in der Kinder sich frei und ohne religiöse Einflussnahme entfalten können. Frieden (pace), Fürsorglichkeit (cura) und Freiheit (libertà) sind bis heute wichtige Werte im Reggio-Ansatz. Alle Kinder werden als Teil einer Gemeinschaft gesehen, die Kindereinrichtungen wiederum als Teil der sie umgebenden Gesellschaft.

Welchen Anspruch auf Bildungsfreistellung hast Du?

Dass eine Teilnahme am geschilderten Seminar möglich ist, ohne dafür Urlaub nehmen zu müssen, liegt am 2016 verabschiedeten Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz. Mit ihm hat Thüringen nachgeholt, was mittlerweile in 14 Bundesländern gesetzliche Realität ist. Darin ist geregelt, dass alle Beschäftigten, die in einem Betrieb mit Sitz in Thüringen und mehr als fünf Beschäftigten arbeiten, einen Anspruch auf fünf Tage bezahlte Freistellung (Azubis drei Tage) erhalten, um sich zu bilden. In dieser Zeit muss der Arbeitgeber den Lohn weiter zahlen, die Seminarkosten trägt in der Regel die oder der Beschäftigte selbst. Bei Themen mit Berufsbezug kann der Arbeitgeber auch die Kosten übernehmen. Anerkannt sind Angebote im Bereich der gesellschaftspolitischen, arbeitsweltlichen und ehrenamtsbezogenen Bildung. Wichtig ist, dass es keinen Zusammenhang des Seminarthemas mit der eigenen beruflichen Tätigkeit geben muss. Denn für ein funktionierendes gesellschaftliches Miteinander braucht es Menschen, die sich einbringen und mitdiskutieren können. Menschen, die sich mit politischen, sozialen, ökonomischen Fragen befassen und genau hierfür einmal im Jahr den Kopf frei haben können.

Bleibt das Gesetz so bestehen?

Seit 2016 sind Seminare nach dem Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz ein fester Bestandteil der Angebote des DGB-Bildungswerk Thüringen. Anmeldungen für 2025 sind ab dem 18. November 2024 unter www.bildungsfreistellung.dgb-bwt.de möglich. Das beschriebene Seminar zum Reggio-Ansatz steht für September 2026 erneut auf dem Programm. Ob es stattfinden wird, hängt auch davon ab, ob eine neue Thüringer Landesregierung das Gesetz attackieren wird oder nicht. Alle, denen das Gesetz am Herzen liegt, sollten hier wachsam sein und ggf. aktiv werden. Denn die Bildungsfreistellung bietet eine einzigartige Möglichkeit, auch im Erwachsenenalter Hundert Welten zu entdecken.

 

Deine fünf Schritte zur Bildungfreistellung
  1. Was interessiert Dich bzw. zu welchem Thema möchtest Du Dich bilden? > Angebot aussuchen
  2. Beim Bildungsträger anmelden (bei nicht in Thüringen anerkannten Angeboten: Bildungsträger um Beantragung der Anerkennung bitten)
  3. Freistellung beim Arbeitgeber beantragen
  4. Das Bildungsangebot genießen
  5. Teilnahme beim Arbeitgeber nachweisen

Zentrale Infos online: www.bildungsfreistellung-thueringen.de

Infos vom zuständigen Ministerium: www.bildungsfreistellung.de

 

Kontakt
Frank Lipschik
Bildungsreferent - DGB Bildungswerk
Telefon:  0361 / 217 27 - 28