Perspektive Lehrkräftenachwuchs
"Haltung" in der Lehrer:innenausbildung: Mehr als nur gute Absichten!
Die Migrationsgesellschaft ist längst Realität – auch in Thüringen. Doch wie gut werden die angehenden Lehrkräfte an den Universitäten Jena und Erfurt auf die Herausforderungen in den Schulen vorbereitet, die von Vielfalt und Diversität geprägt sind? Als GEW fordern wir grundlegende Reformen in der Lehrer:innenausbildung, um die interkulturelle Kompetenz, eine rassismuskritische Haltung und Sensibilität für Diskriminierung zu stärken.
Vielfalt als Chance: Wie Jena und Erfurt Studierende vorbereiten
Sowohl an der Friedrich-Schiller-Universität (FSU) Jena als auch an der Universität Erfurt haben die neuen Herausforderungen längst Einzug in die Lehramtsausbildung gehalten. Beide Universitäten bieten im Rahmen des bildungswissenschaftlichen Studiums Module zu den Themen Heterogenität, Diversität und Inklusion an. „In den Fachdidaktiken wird das Thema Diversität modulübergreifend behandelt, da Differenzierung und individuelle Förderung im Unterricht essenzielle Bestandteile einer professionellen Lehrpraxis sind“, führt der wissenschaftliche Geschäftsführer der Erfurt School of Education, Dr. Benjamin Dreer-Göthe, aus.
Sowohl in Jena als auch in Erfurt gibt es die Möglichkeit, den praktischen Teil des Studiums (in Jena das Praxissemester, in Erfurt das Komplexe Schulpraktikum) im Ausland zu absolvieren. An der FSU Jena nutzen jährlich etwa 30-50 Studierende diese Möglichkeit, um interkulturelle Erfahrungen zu sammeln. Die Universitäten Jena und Erfurt sehen im Auslandsaufenthalt eine Chance für Studierende, sich mit eigenen Privilegien auseinanderzusetzen und somit ihre eigenen Einstellungen zu reflektieren. Zentral sei dabei, dass die Studierenden häufig erstmalig das eigene Fremd-Sein in einem anderen Land erleben würden und sich dadurch eher exkludierender und inkludierender gesellschaftlicher Prozesse bewusst würden. Die Studierenden berichten „von einer Sensibilisierung für durch Vielfalt bedingte Missverständnisse und Konflikte, von einem persönlichen Gewinn an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in neuen Situationen und Umgebungen oder von einer gewachsenen Wertschätzung von Vielfalt und ‚Anderssein‘ in Klassen als Ressource für den gemeinsamen Unterricht." (Britta Möbius, Referentin Internationalisierung Lehrerbildung I ZLB Universität Jena).
Wichtig sei außerdem, dass es inzwischen sowohl in Erfurt als auch in Jena ein ausführliches On- und Offboarding sowie eine pädagogische Begleitung während der Auslandsaufenthalte gibt, um die Studierenden bei der Reflexion des Erlebten zu unterstützen. Die Möglichkeit, das Praxissemester im Ausland zu absolvieren, ist auf vielen Ebenen ein richtiger Schritt für die Lehrer:innenbildung in Thüringen gewesen. Britta Möbius von der Universität Jena weist allerdings darauf hin, dass das Praxissemester im Ausland an der Universität Jena vor dem Ende stehe. Die Projektmittel des Landes Thüringen laufen Ende 2025 aus und bisher gibt es noch keine Anschlussfinanzierung der Universität.
Haltung zeigen: Wie die GEW die Lehrer:innenausbildung verändern will
Als GEW betonen wir immer wieder die Notwendigkeit einer strukturellen Verankerung interkultureller Kompetenz und rassismuskritischer Ansätze in allen Phasen der Lehrer:innenausbildung. Dies erfordert vor allem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung und den unbewussten Vorurteilen, die das eigene Handeln beeinflussen können. Der Rassismusforscher Karim Fereidooni bringt es in dem ebenfalls in dieser Ausgabe abgedrucktem Interview wie folgt auf den Punkt: „Rassismus beginnt nicht erst mit einem Molotowcocktail, der gegen meine Hauswand geschleudert wird. Rassismus beginnt mit Skepsis: ‚Kannst du, so wie du aussiehst oder so wie du heißt, eine gute Lehrkraft sein?‘ Das ist der Beginn von Rassismus.“ (Fereidooni, 2024).
Die GEW fordert daher, dass Rassismuskritik als feste Professionskompetenz für Lehrkräfte etabliert wird. Angehende Lehrer:innen sollen lernen, Rassismus zu erkennen, zu thematisieren und aktiv dagegen vorzugehen. Dies umfasst auch die Reflexion des eigenen Unterrichtsmaterials und die Sensibilisierung für diskriminierende Sprache.
Was bedeutet "Haltung" wirklich? Eine Begriffsklärung
Das Konzept "Haltung" geht über bloßes Wissen hinaus und umfasst die inneren Einstellungen, Werte und Überzeugungen, die das Handeln der Lehrkräfte prägen (Karakaşoğlu & Vogel, 2025, S. 110 ff.).
Eine migrationssensible Haltung bedeutet:
- Anerkennung von Vielfalt: Die Vielfalt der Schüler:innen wird als Bereicherung und Normalität betrachtet.
- Reflexivität: Lehrkräfte reflektieren ihre eigenen Vorurteile, Stereotypen und Annahmen.
- Empathie: Die Fähigkeit, sich in die Lebenswelten der Schüler:innen hineinzuversetzen.
- Sensibilität für Diskriminierung: Lehrkräfte sind sensibilisiert für Rassismus und setzen sich aktiv für Chancengleichheit ein.
- Sprachbewusstheit: Die Sprache der Lehrkräfte wird als Ausdruck ihrer Haltung betrachtet. Eine wertschätzende und inklusive Sprache ist entscheidend.
- (ebenda S. 117 ff.).
Lehrkräfte müssen sich ihrer eigenen Prägung bewusst werden und Stereotype hinterfragen. "Haltung drückt sich – anders als in Konzepten der Aneignung ‚Interkultureller Kompetenz‘ betont – gerade in der Hinterfragung von verbreiteten Bildern über ‚die Anderen‘ aus und darin, der Versuchung zu widerstehen, medial verbreitete Bilder über ‚bestimmte Kulturen‘ als Erklärung für problematische Situationen an Schulen, an denen Menschen ‚mit Migrationshintergrund‘ beteiligt sind, heranzuziehen." (Karakaşoğlu & Vogel, 2025, S. 115).
Bildungsgerechtigkeit für alle: Thüringen kann mehr!
Die Umsetzung der GEW-Forderungen ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Eine ausreichende Finanzierung der Lehrer:innenausbildung ist ebenso notwendig wie eine enge Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Schulen und Politik. Denn am Ende sind es auch nicht die Lehrer:innen von morgen, die die Aufgaben einer sich ständig verändernden Welt alleine lösen können. Es braucht weitere Perspektiven im System Schule, multiprofessionelle und multilinguale Teams, denen das System erlaubt, adäquat gemeinsam auf die Bedürfnisse der Schüler:innen einzugehen.
Die Investition in eine migrationssensible Lehrerinnenausbildung ist unerlässlich, um Bildungsgerechtigkeit zu fördern und allen Schülerinnen gleiche Chancen zu ermöglichen. Thüringen hat die Chance, hier eine Vorreiterrolle einzunehmen und eine Lehrer:innenausbildung zu gestalten, die den Herausforderungen der Migrationsgesellschaft gewachsen ist.
99096 Erfurt
