Rezension eines ZEIT-Artikels
Fördern adé - Kuscheln juchhe?
Mitten ins Sommerloch platzte ein Zeitungsartikel von Martin Spiewak in der ZEIT-Ausgabe Nummer 36 vom 23. August 2024 mit dem Titel „Fördern statt Kuscheln!“. In diesem stellt der Autor die These auf, dass in deutschen Kindergärten zu wenig auf die Schule vorbereitet würde und dahinter jahrzehntealtes Denken stecke. Ein Skandal? Ein wichtiger Debattenbeitrag zur Qualität von Kindergärten? Lasst uns diskutieren.
Schulreife als Tabu und mangelnde staatliche Steuerung
Der Artikel beginnt mit der Frage, was Kinder am Ende der Kindergartenzeit eigentlich können sollten, und definiert Schulreife als das selbstverständliche, jedoch in Kindergärten tabuisierte Ziel. Auf internationaler Ebene würden deutsche Bildungspolitiker:innen nur Unverständnis beim Thema „Vorschule“ ernten. Denn Deutschland gibt zwar mehr Geld pro Kindergarten- als pro Schulkind aus und hat - auch bedingt durch mitunter kostenfreie, staatlich finazierte Betreuungsplätze - sehr hohe Betreuungsquoten. Doch die Deutschkenntnisse vieler Schulstarter:innen seien zu schlecht und zu wenig werde disbezüglich staatlich gesteuert.
Apropos staatliche Steuerung: Eben diese sollte mit dem Qualitätsentwicklungsgesetz durch die Einführung bundesweiter Qualitätsstandards in Kindergärten und in der Tagespflege Einzug halten. Und scheiterte, wie auch schon beim sogenannten Gute-Kita-Gesetz, am Widerstand der Bundesländer. Nach deren Meinung sind deutsche Kindergärten zu unterschiedlich, als dass man mit einheitlichen Standards einen bundesweiten Rahmen geben könnte. Zudem bedinge die Wahlfreiheit der Eltern die Eigenständigkeit der Kindergärten.
Dabei seien die ersten Lebensjahre die wichtigste Lernzeit. Bildungsungleichheit entstehe bereits vor der Schule und verschaffe den Sprößlingen privilegierter Familien bis zum Schulstart einen Lernvorsprung. Dies ließe sich im Kindergarten kompensieren, zum Beispiel durch gute, jede Sprachgelegenheit dialogisch ausnutzende Sprachförderung oder durch mathematische Bildungsimpulse. Nur finde all das in deutschen Kindergärten viel zu wenig statt, meint nicht nur Martin Spiewak, sondern auch die Autor:innen der Expertise zur Vorbereitung des Qualitätsentwicklungsgesetz. Und nicht nur die Quantität wird bemängelt: „Gerade in Kitas mit vielen Migranten läuft es bei der Sprachförderung besonders schlecht“.
Das „geringe Bildungsniveau“ der Kindergartenpraxis
erklärt der Autor mit einer historischen Entwicklung in der Frühpädagogik: weg von der traditionellen Belehrungspädagogik, hin zum Situationsansatz. Der Kindergarten ist als Ort des sozialen Lernens eine Gegenwelt zur Schule geworden.
Bildung vom Kind her zu denken, sei dabei durchaus berechtigt: in Deutsch sprechenden Mittelschichts-Familien mit ihren heimischen Lese- und Lernwelten. Wenn aber bereits vierzig Prozent aller Kinder über drei Jahren aus Familien stammten, die einen Migrationshintergrund aufweisen, bräuchte es nach Auffassung des Autors für diese gezielte Anleitungen, systematische Anregungen und strukturiertes Lernen. Der Schlüssel sei die Sprache; und diese erwürben Kinder aus Familien mit nichtdeutscher Herkunftssprache nicht einfach nebenbei und schon gar nicht in einem multisprachlichen Umfeld. „Für diese Kinder wird es später in der Grundschule besonders ernst. Die heutige Kita-Pädagogik wird ihnen deshalb nicht mehr gerecht“, so Martin Spiewak.
Wie ist es also um die Vorläuferfähigkeiten bestellt? Die Bildungspläne der Bundesländer seien diesbezüglich seit zwanzig Jahren nur „pädagogische Wunschlisten“ geblieben, da sie für die Einrichtungen nicht bindend seien. Dies sei in England (Inspektion der Vorschulen) und den Niederlanden (Kompetenztests) anders. Hierzulande habe einzig Hamburg obligatorische Lernpläne für die Vorschule. Noch. Die Fröbel-Gruppe hat vor, die Bildungsqualität ihrer Einrichtungen zu evaluieren, manche Bundesländer wollen verbindliche Deutschtests für Vorschüler:innen einführen und Baden-Württemberg legt ein Programm für frühe Sprachbildung auf.
Endlich Qualitätsdebatten?
Führen wir also jetzt, nach Jahren, in denen es in den alten Bundesländern vordergründig um den Platzausbau und in den neuen Bundesländern um Beitragsfreiheit ging, endlich Qualitätsdebatten? Nach Martin Spiewak ist das vorherrschende Merkmal der deutschen Kita-Debatte nachwievor „ihr politisches Vakuum, ihre intellektuelle Schlichtheit. Über Schulpolitik wird in Deutschland gestritten, die Kultusministerkonferenz steht in der Dauerkritik. Das Wort Kita-Politik dagegen gibt es nicht einmal“.
99096 Erfurt
