Gastbeitrag der Landesschülervertretung (LSV) Thüringen
Ein Jahr Corona aus Schüler:innensicht
Hätte man noch in der ersten Märzhälfte 2020 Thüringens Schüler:innen gefragt, wo sie sich morgens um acht Uhr befinden, wäre die Antwort mit wenigen Ausnahmen überall gleich gewesen: „In der Schule natürlich!“ „Wo auch sonst?“, wäre vermutlich oft als Gegenfrage aufgeworfen worden. Wenn nicht gerade der Lehrer:innenmangel für frühe Ausfallstunden sorgte, war der Schulbeginn um acht Uhr doch mehr Alltag für Schüler:innen als alles Andere. Kurze Zeit später änderte sich dieser Zustand jedoch radikal und dennoch einheitlich.
Jede Schülerin und jeder Schüler war auf einmal gezwungen, seinen Schultag von Zuhause aus zu starten – ganz egal, wann. Videokonferenzen fanden zu dieser Zeit noch kaum statt, die gestellten Auf-gaben zwangen einen nicht dazu, sich an bis-her gängige Zeitmuster zu halten.
Stellt man die Frage aktuell an Schüler:innen, werden die Antworten kaum verschiedener ausfallen können: Wer dieses Jahr seinen Schulabschluss macht, muss wieder jeden Tag pünktlich acht Uhr in der Schule sitzen, wer im nächsten Jahr die Schule verlässt, dem geht es zumindest im Tages- oder Wochenwechsel ähnlich. Die jüngeren Mitschüler:innen dürfen in Abhängigkeit der loklaen Inzidenz teilweise die Schule besuchen, teilweise nicht. Manch einer hat nach dem regulären Stundenplan Videokonferenzen, manch andere liegt zu der Zeit noch im Bett. Hinter allen liegt jedoch bereits jetzt ein Jahr, das jegliche bisherigen Vorstellungen von Schule und Unterricht grundlegend änderte.
Unterschiedliche Bedingungen, Möglichkeiten und Chancen
Neben allen pandemiebedingten Verschärfungen von Problemen hat uns das letzte Jahr eines ganz deutlich gezeigt: Es ist ein Trugschluss, zu denken, schulischer Erfolg hänge allein von Wissen, Ehrgeiz und Intelligenz ab. Es sind vielmehr die Rahmenbedingungen einer jeden Schülerin und eines jeden Schülers, die den Verlauf der Schullaufbahn bestimmen. Denn sie bilden das Fundament dafür, dass Wissen überhaupt erst angewendet und genutzt werden kann.
Diese Entwicklung ist natürlich keinesfalls neu, doch in Zeiten des häuslichen Lernens trat und tritt sie verstärkt auf. Noch nie war der Lernerfolg so sehr davon abhängig, welche technische Ausstattung eine Familie hat, ob ein eigenes Kinderzimmer als Rückzugsort vorhanden ist, wie viele Geschwister gleichzeitig den Rat der Eltern für die Aufgaben zur Hilfe ziehen und ob Eltern bzw. Elternteile überhaupt dazu in der Lage sind, das eigene Kind bei schulischen Problemen zu unterstützen. Diese vielen Unterschiede auszugleichen, gelingt vielleicht in gewisser Form im Präsenzunterricht, auf keinen Fall jedoch in der Distanz.
Schüler:innen berichten folglich völlig unterschiedlich von ihren Erfahrungen aus dem häuslichen Lernen: Während einige die Zeit Zuhause durchaus nutzen konnten, um Unterrichtsinhalte durch die selbstständige Arbeit tiefgründiger zu verinnerlichen als es im normalen Schulalltag möglich ist, hatten andere massive Probleme, überhaupt hinterherzukommen. Diese Ungleichheit muss in der nächsten Zeit aufgearbeitet und bestmöglich beseitigt werden. Doch dieser Prozess wird ein schwieriger sein.
Bitte kein Corona-Jahrgang!
Einige Expert:innen, sowohl echte als auch welche, die sich selbst nur dafür halten, stufen den aktuellen Jahrgang darum als einen verlorenen ein. Eine ganze Generation soll aufgrund der vergangenen (schulischen) Versäumnisse im Zuge der Corona-Pandemie als „Corona-Generation“ gelten. Doch genau das muss verhindert werden.Zum Einen gelingt das, indem gezielte Maßnahmen zur Vermeidung eines solchen Zustandes getroffen werden. Maßgeblich dafür sind auch die Prüfungen. Nachteile bei der Durchführung der Prüfungen lassen sich nicht mehr vermeiden. Sie können nur noch ausgeglichen werden, weswegen wir die ganze Zeit nur über Nachteilsausgleiche sprechen. Was sich aber noch vermeiden lässt, sind Nachteile nach den Prüfungen. Denn auch wenn man durchaus unter den Bildungsminister:innen der Länder klären könnte, dass ein Schulabschluss ohne Prüfungen gegenseitig anerkannt wird und damit keine Abwertung erfolgt, so wird doch zumindest ein Gefühl unter vielen Schüler:innen bleiben, eine Art „Corona-Jahrgang“ zu sein. Die einzig sinnvolle Möglichkeit ist daher, das Gleichgewicht zwischen Prüfungsanpassung und „Normalität“ zu wahren. Das kann nur mit gerechten Nachteilsausgleichen und unter dem Grundsatz „Kein Abschluss ohne Prüfungen“ gelingen.
Zum Anderen müssen Menschen, die wenig mit Schüler:innen und Jugendlichen zu tun haben, aufhören, über diese zu urteilen. Die Degradierung zur „verlorenen Generation“ verkennt nicht nur die riesigen Leistungen aller in der vergangenen Zeit, sondern nimmt auch jegliche Hoffnung. Dabei ist gerade sie wichtig, um nicht nur körperlich gesund aus der Pandemie zu kommen.
Lernen für die Zukunft
Die Bildungspolitik der Post-Corona-Zeit wird sich daran messen lassen müssen, ob sie nicht nur die Pandemie mehr oder weniger gut gemanagt, sondern auch aus ihr gelernt hat.
Der in den letzten Monaten vollzogene gewaltige Fortschritt in der Digitalisierung muss genutzt und fortgeführt werden, selbstständiges Lernen muss eine viel größere Rolle spielen, der soziale Ort Schule muss viel mehr als ein solcher anerkannt und bspw. durch entsprechendes Personal gefördert, systematischer Ungleichheit endlich durch das System entgegenwirkt werden.
Wenn wir zumindest ein paar dieser Punkte bald erreicht haben, können wir in Zukunft vielleicht mit gelassenerem Blick auf die dann vergangene Pandemie schauen.
99096 Erfurt