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Ein Blick über den Rhein: Wo Ganztagsschule selbstverständlich ist

Schon in den achtziger Jahren hatte ich im Rahmen meines Lehramtsstudiums Gelegenheit, Schulpraktika in Frankreich durchzuführen, und zwar sowohl in der École Primaire (Grundschule) als auch im Collège (Sekundarstufe I). Später war ich dann auch im Lycée (Sekundarstufe II) sowie Classes Préparatoires (Vorbereitungsklassen auf Elitehochschulen) tätig, so dass ich die verschiedenen Stufen des französischen Bildungssystems erfahren habe. In diesem System sind sowohl „eine Schule für alle“ als auch „Ganztag“ so selbstverständlich, dass es nicht einmal eigene Begriffe hierfür gibt.

CC - Havang(nl)
CC - Marc Roussel

„Nachmittags kein Unterricht? Wer kümmert sich denn dann um unsere Kinder?“ Mit dieser Frage von Eltern ist jede Lehrkraft in Frankreich konfrontiert, die einen Schüleraustausch mit Deutschland organisiert. Da es dieses Ganztagsschulsystem in Frankreich schon über hundert Jahre gibt, fällt es Eltern und Lehrkräften schwer, sich überhaupt etwas anderes vorzustellen.

Der Schulrhythmus ist an den Arbeitsrhythmus angepasst, auch Vollzeitbeschäftigung beider Elternteile lässt sich (weitgehend) mit der Schulpflicht der Kinder vereinbaren, erst recht seitdem es die gesetzliche 35-Stunden- Woche in Frankreich gibt. Lediglich in den Schulferien und am Mittwoch kann es zu „Kollisionen“ kommen.

Der Rhythmus , den ich in der Grundschule erlebt habe, war wie folgt:

Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag 09:00 bis 12:00 und 13:30 bis 16:30 Uhr, insgesamt also vier Tage à sechs Stunden. Da es sich um eine Dorfschule mit 15 Schülerinnen und Schülern im Alter von 5 bis 11 Jahren handelte, wurden die 24 Stunden mit ein und derselben „Maîtresse“ (Lehrerin) verbracht. In diesen kleinen Grundschulen, die auch heute noch weit verbreitet sind in Frankreich, wird jahrgangsübergreifend unterrichtet. Die Schule bleibt auf diese Weise „im Dorf“. Sind pädagogische
Prinzipien – bspw. die Techniken nach Célestin Freinet – einmal in einer kleinen Grundschule etabliert,
können diese von den Schülern und Schülerinnen selber weitergegeben werden, da jedes Jahr nur wenige ausscheiden und wenige neu hinzukommen.

Der Weg zur Arbeit war nicht weit: üblicherweise ist die Dienstwohnung der Lehrerin/des Lehrers im selben kommunalen Gebäude untergebracht: „Mairie – École“, also Rathaus und Schule im Erdgeschoss, Dienstwohnung darüber. Im Treppenhaus gibt es einen Lederriemen, an dem die „Maîtresse“ beim Hinuntergehen zieht, um die Glocke auf dem Dach zu betätigen und den Kindern damit den Unterrichtsbeginn anzuzeigen. Verschlafen – kein Problem, denn der Lärm der wartenden Schüler*innen reicht zum Aufwachen. Der Dorfschullehrer hat
traditionell auch die Schreibarbeiten für den Bürgermeister in der „Mairie“ übernommen, die ja das Nebenzimmer des Schulraums war.

Große Sekundarschulen

Mit dieser Dorfschulidylle ist es dann in der Sekundarschule vorbei – es sind meist größere Schuleinheiten mit mehreren hundert bzw. tausend Schülerinnen und Schülern, die sich in zentralen Orten befinden. Oft ist einem „Collège“ oder „Lycée“ auch ein Internat angeschlossen, in dem die Schüler und Schülerinnen aus dem Einzugsbereich
wohnen, denen ein täglicher Schulweg auf Grund der Entfernung nicht zuzumuten ist. Frankreich ist wesentlich dünner besiedelt als Deutschland und hat gerade im ländlichen Raum eine
deutlich schlechtere Verkehrsinfrastruktur.

Der Rhythmus an einer Sekundarschule ähnelt demjenigen einer Grundschule, nur das die Präsenzzeiten länger sind:

Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag 08:00 bis 17:00 bei einer Stunde Mittagspause, Mittwoch oder Samstag von 08:00 bis 12:00 Uhr. Der Mittwochnachmittag ist Freizeitaktivitäten wie Sport oder Musik vorbehalten (oder Shopping mit den Eltern). Es ist offenkundig, dass es Mittwochnachmittag bzw. auch ganztägig zu Betreuungsproblemen kommen kann, so dass man dann auffallend viele Kindern bspw. am Arbeitsplatz der Eltern sieht, weil sie keine anderen Betreuungsmöglichkeiten haben. Grundsätzlich können die Schulen ihren Wochenrhythmus selber festlegen. Dabei gab es gerade in den 90er Jahren Interessenkonflikte zwischen denjenigen Eltern, die die Kinder lieber am Samstag beschult sehen (um mal in Ruhe etwas ohne Kinder und außerhalb des Arbeitsalltags zu erledigen) und anderen, die ihre Kinder lieber am Mittwoch beschult sehen. Ihnen ging es um die Lösung der Betreuungsprobleme an diesem Tag und um den ganzen Samstag als Familientag.

Was bedeutet es für den Arbeitsalltag des Personals?

Grundsätzlich gibt an einer Sekundarschule eine Vielzahl von Personalkategorien, schätzungsweise nur die Hälfte sind Lehrkräfte. Neben Wirtschaftspersonal in Küche und Internat gibt es Schulpädagog*innen und -psycholog*innen, Aufsichtspersonal, Bibliotheksfachkräfte, neben Schulleiter*in und Stundenplaner*in gibt es einen „Intendant“ (Verwaltungsleiter), zuständig für die wirtschaftliche Leitung. Die Lehrkräfte an Sekundarschulen können grundsätzlich zwischen 8 und 17 Uhr Unterricht haben, allerdings wird versucht, die Lehrverpflichtung auf drei bis vier Tage zu konzentrieren. So bleibt mindestens ein Wochentag ganztägig unterrichtsfrei und kann für Vor- und Nachbereitungen genutzt werden. Die Pflichtstundenzahl ist je nach Schulstufe und Lehramt unterschiedlich, in den meisten Fällen beträgt sie aber 18 Wochenstunden (wobei eine Schulstunde 50 bis 55 min umfasst, um Übergänge und kleine Pausen zu gewährleisten).

Aus Sicht der Schülerinnen und Schüler ist nicht durchgängig Unterricht, es gibt an jedem Schultag unterrichtsfreie Phasen (meist einzelne Schulstunden), in denen Betreuung durch pädagogisches Personal gewährleistet ist bzw. die im CDI (Centre de documentation et d’information, einer Art erweiterten Schulbibliothek) verbracht wird. Hausaufgaben für die Zeit nach 17 Uhr bzw. das Wochenende soll es zumindest in der Grundschule nicht geben, aber auch in der Sekundarschule sollten diese Aufgaben in den unterrichtsfreien Phasen in der Schule erledigt werden.

Familie und Beruf sind in Frankreich gut miteinander verbunden

Der französische Schulalltag gleicht äußerlich dem Arbeitsalltag von Erwachsenen, was dazu führt, dass man in Frankreich – mit Ausnahme von Mittwoch und den Schulferien – auch kaum Kinder und Jugendliche auf der Straße sieht. Ergänzt um Krippe und Vorschule (ab dem 3. Lebensjahr) lässt das französische System Familie und Beruf gut miteinander vereinbaren. Es liegt nahe, dass Frankreich auch deshalb eine der höchsten Geburtenraten Europas hat. Vielleicht ist
auch deshalb bislang fast jeder Politiker gescheitert, der versucht hat, etwas am Schulwesen zu ändern.

In jedem Fall ist „Ganztag“ seit Generationen etwas so Selbstverständliches in Frankreich, dass man die Sorge französischer Eltern in Bezug auf Verwahrlosung an den weitgehend
unterrichtsfreien Nachmittagen in Deutschland durchaus verstehen kann.

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Thomas Hoffmann
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Thomas Hoffmann