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Vielfalt

Diversitätsarbeit an Thüringer Hochschulen? Eine Aufgabe für Alle!

Diskriminierungen sind Bestandteil des Hochschulalltags und des Campuslebens. Ziel von Diversitätsarbeit ist, Diskriminierungen abzubauen und in Zukunft zu verhindern. Damit dies gelingt, müssen alle Hochschulangehörigen Teil der Lösung sein.

Quelle: Sharon McChutcheon - unsplash

Diskriminierungen als Teil des Hochschulalltags

  • Studierende, die „nebenbei“ arbeiten müssen, um das Studium zu finanzieren, das auf eine 40-Stunden-Woche ausgerichtet ist.
  • Eine Studentin of Color, die eigentlich aus Weimar kommt und immer nur dann von der Lehrperson angesprochen wird, wenn es um ihr angenommenes(!) Herkunftsland geht.
  • Studierende mit Behinderung/chronischer Erkrankung, die mit jeder einzelnen Lehrperson den Nachteilsausgleich besprechen und diskutieren müssen, während Andere sich in erster Linie auf die Prüfungsvorbereitung konzentrieren können.
  • Ein queerer Doktorand, der sich tagein und tagaus homophobe und sexistische Kommentare anhören muss und nur zu gern widersprechen würde, aber es sich nicht leisten kann, seinen Job zu verlieren.
  • Eine Postdoktorandin, die regelmäßig von den männlichen Kollegen in Kolloquien unterbrochen und ko-referiert wird.

Die Auflistung von Diskriminierungen im Hochschulalltag lässt sich weiter fortsetzen. Der Forschungsstand ist eindeutig: Jede neue Erhebung zu Diskriminierung und Diversität auf dem Campus zeigt ein ähnliches – problematisches – Bild. Wie für den Schulbereich genügen sehr gute Leistungen alleine nicht, um erfolgreich zu sein. Vielmehr spielen soziale Zuschreibungen und Stereotype aufgrund von sozialer Herkunft und Klasse, Geschlecht, Sexualität, Behinderung oder chronischer Erkrankung, Weltanschauung oder Religion sowie rassistische Vorurteile eine zentrale Rolle beim Erkennen und Anerkennen von wissenschaftlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die Norm des weißen, männlichen, bürgerlichen, heterosexuellen, nicht-behinderten Studenten und Wissenschaftlers ist tief in die traditionsreiche Institution eingeschrieben und dient – häufig unabsichtlich, manchmal bewusst – als Schablone für Bewertungen und für die (schwierige) Prognose, wer zukünftig große wissenschaftliche Leistungen erbringen wird.

Diskriminierungen und die daraus resultierenden Ungleichheiten hinsichtlich des Zugangs zu Bildung, Ressourcen und gesell schaftliche Entscheidungspositionen stellen ein strukturelles Problem dar, das alle Hochschulen – auch die Thüringer – betrifft. Zur Bewältigung des Problems braucht es eine gemeinsame Anstrengung der Hochschulangehörigen. Dabei kann ein Blick auf die Entwicklung der Diversitätsarbeit an Hochschulen als Orientierungshilfe und zugleich als Inspiration für das Beschreiten kreativer und mutiger Wege dienen.

Wie Diversität in die deutsche Hochschullandschaft kam

Kritik am sozial selektiven Zugang zur Wissenschaft gibt es seit mehr als 150 Jahren – dabei wurden auch Etappensiege wie der Zugang zum Studium für Frauen zwischen 1900 und 1908 im Kaiserreich oder die Einführung des BAföG vor 50 Jahren errungen. Neuen Schwung bekam der Widerstand mit den sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre in den USA, die auch ihren Weg nach Europa fanden. Hierzu zählen das ‚Civil rights movement‘, das in der BRD seine Entsprechung in migrantischer und afrodeutscher Selbstorganisation fand, die Frauen- und Behindertenbewegungen sowie die sogenannte Studentenbewegung, die direkt die feudalen Machtverhältnisse in den Universitäten anprangerte.

In den USA zeitigten die vielfältigen Proteste eine wirksame (wenn auch nicht perfekte) Antidiskriminierungsgesetzgebung, die wiederum die Unternehmen in den 80ern und 90ern zum Diversity Management (DiM) führten, auch um potentiell sehr kostspielige Klagen zu vermeiden. Über den betriebswirtschaftlichen Ansatzdes DiM, der Heterogenität als wertvolle Ressource und diverse Teams als kreatives Potential betrachtet, gelangte Diversität in den 2000er Jahren in die deutsche Hochschullandschaft.

Ein weiterer „Push-Faktor“ waren internationale Abkommen zum Diskriminierungsschutz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie entsprechende Richtlinien der Europäischen Union aus den 2000er Jahren, die den Boden für das 2006 in-Kraft-getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bereiteten.

Dieser kleine historische Abriss verweist auf die verschiedenen Zugänge zum Diversitätsbegriff, die in der hochschulpolitischen Praxis häufig zusammenwirken:

  • In der ökonomischen Perspektive des Diversity Managements wird die Anerkennung von Differenzen und Heterogenität der Organisationsmitglieder als zentraler Faktor für den Organisationserfolg betrachtet.
  • Aus Perspektive des Antidiskriminierungsrechts stehen die individuellen Folgen und existenziellen Gefährdungen aufgrund von Diskriminierungen im Mittelpunkt.
  • Mit einer sozialwissenschaftlich informierten Perspektive geht es bei Diversität und Antidiskriminierung darum, (1) die politische und soziale Wahrnehmung der Heterogenität von Menschen und die damit verbundene Komplexität ihrer Lebensverhältnisse zu fördern und zu stärken. Und (2) Rahmenbedingungen für einen konstruktiven und produktiven Umgang mit dieser Heterogenität und Komplexität zu schaffen.

Die Verankerung der Diversitätsarbeit erfolgt an den Hochschulen in unterschiedlicher Form: Stabsstellen, Prorektorate, Referent:innenstellen – und seit 2016 in immer mehr Bundesländern auch mit gesetzlich verankerten Beauftragten für Diversität. Je nach Standort und in Abhängigkeit vom Commitment der Hochschulleitungen variieren die Ausstattung und Ressourcen und damit einhergehend die Wirkmächtigkeit der Diversitätspolitiken. Ebenso sind wissenschaftspolitische Impulse (z.B. durch Hochschulgesetze, Ziel- und Leistungsvereinbarungen) sowie förderpolitische Maßnahmen (z.B. Diversität als Kriterium bei der Bewilligung von Drittmitteln durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft) unabdingbar.

EINE KLEINE CHRONOLOGIE ZU DIVERSITÄT AN DEUTSCHEN HOCHSCHULEN
 
  • 2007 | Erste Stabsstelle für Diversity Management im Rektorat der RWTH Aachen
  • 2008 | Erstes Prorektorat für Diversity Management an der Universität Duisburg-Essen
  • 2010/11 | Projekt „Diskriminierungsfreie Hochschule“ der Antidiskriminierungsstelle des Bundes → Leitfaden zu Diskriminierungsschutz an Hochschulen
  • 2012 | Gründung des bundesweiten Netzwerks Diversity an Hochschulen
  • 2012 | Einrichtung des Audits „Vielfalt gestalten“ durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V.
  • 2013 | Erstes bundesweiter Diversity-Tag (initiiert von Charta der Vielfalt e.V.)
  • 2016 | Schleswig-Holstein führt mit der Novellierung des Hochschulgesetzes als erstes Bundesland Beauftragte für Diversität ein | Thüringen folgt 2018
 

Diversitätsarbeit an Thüringer Hochschulen

In Thüringen hat die Novellierung des Hochschulgesetzes im Jahr 2018 wesentlich dazu beigetragen, die Diversitätspolitik auf der Agenda nach oben zu befördern. Das Gesetz definiert eine proaktive Antidiskriminierungsarbeit als zentrale Aufgabe der Hochschulen (siehe Info-Kasten), deren Koordination und Umsetzung durch gewählte Diversitätsbeauftragte unterstützt wird. Zu einer angemessenen Ausstattung der Beauftragten ermutigt das Gesetz vorsichtig in einer „kann“-Bestimmung.

Insofern es zahlreiche kleinere Hochschulen gibt, sieht das Gesetz auch eine standortübergreifende Einrichtung vor, die von den Hochschulen getragen wird – dies ist gegenwärtig das Netzwerk für Diversität an Thüringer Hochschulen. Die Netzwerktreffen, die dem fachlichen und kollegialen Austausch dienen, fanden in 2019 und 2020 zunächst selbstorganisiert statt. Seit März 2021 gibt es eine Koordinationsstelle, die die Diversitätsaktiven organisatorisch und fachlich unterstützt.

AUSZUG AUS DEM THÜRINGER HOCHSCHULGESETZ
§5 Aufgaben der Hochschulen
Die Hochschulen wirken darauf hin, dass an der Hochschule Benachteiligungen insbesondere aus Gründen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters, der geschlechtlichen Identität oder der sexuellen Orientierung verhindert oder beseitigt werden.

Zu den zentralen Aufgaben im Bereich der der Diversitätsarbeit an den Hochschulen gehören:

  • die Beratung von Hochschulangehörigen, die von Diskriminierungen auf dem Campus und im Hochschulalltag betroffen sind;
  • die Entwicklung von Maßnahmen und Beratung der Hochschulleitungen, um den Anteil diverser Studierender und Beschäftigter zu erhöhen sowie zu deren Verbleib in den Thüringer Hochschulen beizutragen sowie
  • die Sensibilisierung aller Hochschulangehörigen für Diskriminierungen in Lehre, Forschung, Verwaltungsvorgängen und dem täglichen Miteinander – insbesondere jedoch von jenen, die selbst keine Diskriminierung erfahren.

Diese kure Auflistung lässt schnell erahnen, dass die Aufgaben nicht von einer beauftragten Person allein getragen und erfüllt werden können. Dementsprechend hat die Einführung der Beauftragten Freude und Begeisterung ausgelöst („Gut, dass es Diversitätsbeauftragte gibt!“ von Thomas Hoffmann | tz vom Dezember 2019), aber auch deutliche Kritik hervorgerufen, insofern die Ausstattung mit Rechten und Ressourcen unzureichend ist („Thüringer Hochschulgesetz: Vielfältige Hochschulen“ von Heiner Schulze | tz vom Oktober 2018). Die Kritik ist fraglos berechtigt, zugleich zeigt die Geschichte, dass diese auch eingefordert und erstritten werden müssen.

Beteiligung von Nicht-Diskriminierten und von Gewerkschaften ist notwendig

Es braucht eine Beteiligung der Studierenden und Beschäftigten – vor allem jener, die keine Diskriminierungen erfahren und diesen ‚privilegierten‘ Zustand auch für ihre Kommiliton:innen und Kolleg:innen herstellen möchten – an der Diversitätsarbeit. Dies beginnt beim Pausengespräch und geht weiter damit, den Kollegen mit zu einem Anti-Bias-Training zu nehmen, oder sich in das Auditierungsverfahren „Vielfalt gestalten“ einzubringen, das derzeit an acht Thüringer Hochschulen durchgeführt wird. Und schließlich sind auch die Gewerkschaften aufgefordert, Diversität und Antidiskriminierung ganz oben auf die Agenda zu setzen und zu einem integralen Bestandteil der Gewerkschaftsarbeit zu machen. Vielleicht würde dies auch ein bisschen dabei helfen, den sehr geringen Organisationsgrad an Hochschulen zu erhöhen.