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Lehren aus der Coronakrise im Bereich Schule

Digitalisierung über Nacht

Als klar wurde, dass am 17. März 2020 alle Schulen und Kindergärten wegen der Corona-Pandemie schließen würden, begann vor allem in den Schulen eine teils hektische Vorbereitung für die Zeit der Schließung. Schnell wurden Unmengen an Arbeitsblättern kopiert, in Briefumschläge gepackt und den Schüler*innen für Zuhause mitgegeben. Manche schrieben noch schnell einen Wochenplan, strichen Themen aus dem Plan und hofften, bis zu den Osterferien sei der Spuk vorbei.

Mittlerweile wissen wir alle, dass seit diesem denkwürdigen Tag die gute alte Schule vorbei ist – und dass nicht nur weil es einen, häufig privat, organisierten Digitalisierungsschub gab. Schule wird sich nach dem Lockdown ändern und ändern müssen. In welche Richtung das gehen könnte und was Lehrer*innen zur Bewältigung benötigen, das wollten die Universitäten Erfurt (Dr. Benjamin Dreer) und Jena (Prof. Dr. Bärbel Kracke) genauer wissen. In Kooperation mit der GEW Thüringen führten sie daher vom 30. März bis 5. April 2020 eine Onlinebefragung durch. Die Universitäten haben die Ergebnisse zügig aufgearbeitet und bereits am 22. April veröffentlicht.

An der Umfrage haben sich 1.263 Personen beteiligt. Dreer und Kracke bezeichnen aufgrund verschiedener Parameter die Studie als nicht vollständig repräsentativ für den Thüringer Lehrkörper. Am häufigsten haben sich Gymnasial- und Regelschullehrer*innen beteiligt, was angesichts der Herausforderungen digitaler Bildung und damit einhergehender Möglichkeiten zunächst auf der Hand liegt.

Interessant ist ein Blick auf die Betreuungsverpflichtung der Befragten während der Schließzeit. Nur rund 38 % hatten keine privaten Betreuungspflichten.1 Dies verweist bereits auf die großen Schwierigkeiten, die sich, je länger die Schließung dauerte und sichtbarer der lange Weg zur Wiederöffnung noch größer wurden, Sorgearbeit und Heimarbeit zu organisieren und zu gestalten.

Zu Beginn der Schulschließung wurde die Notbetreuung sehr eng gezogen. Insofern wundert es nicht, dass über die Hälfte der Befragten in der reinen Distanzbetreuung eingesetzt waren. Dennoch befanden sich gut 37 % bereits im kombinierten Einsatz von Distanz- und Vor-Ort-Betreuung.2

Überraschend ist das Ergebnis, auch aufgrund des Zeitpunkts der Befragung nicht: Rund drei Viertel der eingesetzten Medien in der Distanzbetreuung waren klassische Printmedien bzw. Elektronische Versionen davon. Schon die Nutzung von Videoangeboten sinkt auf 38 %, weitere digitale Angebote liegen unter 19 %.3 Ich gehe davon aus, dass sich dies nach der Verlängerung der Schließzeit und 
dem Ausblick, dass es längerfristig eine Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht geben wird, doch ändern wird (siehe Erfahrungsbericht einer Grundschullehrerin).

Auf ein zentrales Problem verweist die Studie: Nicht einmal ein Viertel (22,5 %4) der Befragten gab an, die für digitale Lernformate notwendigen Kompetenzen durch Fort- und Weiterbildung erworben zu haben, dagegen aber 90 % durch eigenes Ausprobieren. Hier muss in den kommenden Wochen und Monaten ein Konzept entwickelt werden, Lehrkräfte für das digitale Klassenzimmer fit zu machen.

Als kooperierende Bildungsgewerkschaft wollen wir uns etwas mehr Zeit nehmen und die Ergebnisse in Ruhe bewerten und Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Thüringer Schulen formulieren. Dabei wird es einerseits um Anforderungen an die weitere Digitalisierung, aber auch um weichere Faktoren gehen.

Bildung unterm Brennglas

Ich möchte hier ein paar Gedanken formulieren, was der Lockdown sichtbar gemacht und was wir daraus für die Zukunft mitnehmen könnten.

  1. Seit Jahren ist der Personalmangel bekannt, mancherorts werden mehr Seiteneinsteiger*innen eingestellt als regulär ausgebildete Lehrkräfte. Wirklich getan hat sich in dieser Frage nichts. Zwar erhalten immer mehr Lehrkräfte eine höhere Eingruppierung, aber so schnell wächst Lehrer*innennachwuchs nicht nach. Ein Beruf, der viele Jahre auf Verschleiß gefahren wurde, gilt bei Abiturient*innen nur als mäßig attraktiv und so kommt zur langen Ausbildungszeit eben noch ein viel zu geringer Anteil von Studierenden hinzu – ganz zu schweigen von den dringend gebrauchten Fachkombinationen und besonderen Bedarfen an Förderschulen, Berufsschulen und Regelschulen. 
  2. Über das „Neuland“, also Anforderungen an digitale Bildung, diskutiert die Fachwelt schon so lange, dass die neue DSGVO alle bis dahin entwickelten Konzepte quasi obsolet gemacht haben. Nicht nur, dass die Schulen noch immer Overheadprojektoren zur Standardausrichtung zählen müssen (statt eines Breitbandanschlusses und W-LAN in allen Klassenzimmern), nein auch die Fort- und Weiterbildung, systematisch, konstruktiv, kollaborativ, hat nie den Stellenwert gefunden, den die Digitalisierung gebraucht hätte. Wer noch dazu Technik aus der eigenen Tasche bezahlen muss und sich Tipps und Tricks für digitales Lernen bei Verwandten, Freunden oder diversen Tutorials organisiert und dabei müde von den weiterhin analog arbeitenden Kolleg*innen belächelt wird, treibt wohl kaum das digitale Klassenzimmer voran.
  3. Wir warnen seit Jahren davor: Der Bildungserfolg in Deutschland hängt immer noch in hohem Maße von der sozialen Herkunft ab. Der plötzlich notwendige Distanzunterricht verschärft die Bildungsungerechtigkeit noch einmal mehr. Die Bildungsstudie ICILS von 2018 erbrachte, dass 36 % der Kinder mit niedrigerem finanziellen Status nur ein digitales Gerät zur Verfügung hatte, während das nur für 15 % der Kinder aus besser gestellten Familien zutraf. In Mehrkindfamilien wird der Zugang zu digitalen Lernformen damit zusätzlich erschwert.

Was heißt das für die Bildung nach Corona?

Zunächst einmal gilt es, die gesellschaftliche Bedeutung von Bildungsfragen neu zu bewerten. Mehr Personal, eine bessere Ausstattung, Zeit für Aus-, Fort- und Weiterbildung sind das eine, aber hinzu kommen muss auch eine stärkere Loslösung von der sozialen Herkunft. Es geht dabei um eine sozialindizierte Personalzuweisung und eine bessere Unterstützung von Familien, z. B. durch Leihgeräte und Übernahme der Telekommunikationskosten. In der Krise haben viele Lehrer*innen bewiesen, dass Distanzunterricht eine Bereicherung ist, sie haben die Gestaltungsspielräume genutzt und sich experimentell ins digitale Klassenzimmer gewagt. Diese wertvollen Erfahrungen, die sicher auch Grenzen definieren, dürfen nicht durch einen vermeintlichen Regelbetrieb verloren gehen. Sie müssen vielmehr die Grundlage für Regelungen und schulische Konzepte werden. Wenn das gelingt, kann die Schulschließung zum Wendepunkt werden, für eine neu verstandene Schule.


1 – Befragung von Thüringer Lehrer*innen während der durch die Corona-Krise bedingten Schulschließungen 2020 – Bericht erster Ergebnisse, 09.04.2020, S. 8
2 – Ebd., S. 9
3 – Ebd., S. 10
4 – Ebd., S. 14

Kontakt
Kathrin Vitzthum
Landesvorsitzende
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