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Die Perspektive des Bildungsministeriums

„Diese Leistung kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.“

Seit Februar des letzten Jahres ist Prof. Dr. Winfried Speitkamp verantwortlicher Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) und damit u.a. zuständig für die Beschäftigten an den Thüringer Schulen. Wir haben ihn nach den aktuellen Arbeitsbedingungen, nach Maßnahmen zur Verbesserung und nach der Vertretungsreserve befragt. Hier sind seine Antworten.

Staatssekretär Prof. Dr. Winfried Speitkamp - Foto: Jacob Schröter/TMBJS

Welche Situation hinsichtlich der Arbeitsbedingungen des pädagogischen Personals an den Thüringer Schulen haben Sie bei Amtsantritt vorgefunden?

Mein Amt als Staatssekretär habe ich am 22. Februar 2022 angetreten. Zwei Tage später begann der russische Krieg gegen die Ukraine, bald darauf kamen die ersten Flüchtlinge nach Thüringen. Zu diesem Zeitpunkt war die Covid19-Pandemie noch nicht überwunden. Es herrschte Unklarheit, welche Maßnahmen bundes- und landesweit künftig gelten und welche Vorkehrungen gegen ein Wiederaufflammen der Pandemie erforderlich sein würden. Die Verschränkung dieser beiden Krisen hat die Anfangszeit meiner Tätigkeit bestimmt. Das pädagogische Personal war von der langen Pandemie-Zeit erschöpft. Eltern waren verunsichert, Kinder hatten offenkundig erheblichen Nachholbedarf. Erst langsam wurden die Schutzmaßnahmen zurückgenommen, dies immer begleitet von weiteren Debatten um angemessenen Schutz. Umso höher sind die Leistungen der Lehrerinnen und Lehrer zu bewerten, die in dieser Zeit wieder den Weg zum Normalbetrieb des Schulunterrichts gestaltet, die Ruhe und Konstanz im Schulalltag sichergestellt haben. Diese Leistung kann gar nicht hoch genug geschätzt werden.

Die zunehmende Fluchtmigration kam hinzu. Zunächst waren es vor allem Frauen und Kinder aus der Ukraine, für die nicht nur einfach eine Unterkunft bereitgestellt werden musste. Auch die angemessene Unterrichtsversorgung musste gesichert werden. Die Hilfsbereitschaft war von Anfang an außerordentlich hoch, sehr viele, auch Lehrerinnen und Lehrer, haben sich hier privat engagiert zum Beispiel durch die Aufnahme von Geflüchteten. Unser gemeinsames Ziel war es von vornherein, Geflüchtete in reguläre Klassen aufzunehmen, sie möglichst gut zu integrieren – ohne ihre ukrainische Identität und Verbundenheit in Frage zu stellen. Viele Schulklassen hatten plötzlich neue Mitschülerinnen und Mitschüler, manchmal standen diese unangemeldet am Morgen vor der Schultür. Immer wieder mussten die Lehrkräfte helfen, organisieren, improvisieren. Dass und wie dies täglich geschafft wurde, ist eine wirklich herausragende Leistung und für uns alle eine prägende Erfahrung. Dem Einsatz der pädagogischen Kräfte ist es nicht zuletzt zu verdanken, dass es – abgesehen von bedauerlichen Ausnahmen – kaum zu Aggressionen und Konflikten unter alteingesessenen und neuen Schülerinnen und Schülern gekommen ist. Mittlerweile steigen auch die Zahlen der Geflüchteten aus anderen Krisenregionen, etwa Afghanistan oder Syrien. Wieder bewähren sich die Lehrkräfte im Alltag. Ich kann sehr gut nachvollziehen, welche enorme Belastung damit verbunden ist. Diese Leistung ist umso bemerkenswerter, als die Arbeitsbedingungen des pädagogischen Personals durch den Mangel an Lehrkräften geprägt sind. Wie wir wissen, hat dieser auch länger zurückreichende Ursachen in der Einstellungspolitik früherer Regierungen. Und der Mangel wird bundesweit auch über die 2020er Jahre hinaus anhalten. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet er eine ständige Überlastung. Auch Maßnahmen, um dem Lehrermangel abzuhelfen (z.B. durch Seiteneinsteigende), sind nicht einfach so hilfreich, vielmehr erfordern sie wiederum Einarbeitung und Unterstützung der neuen Kolleginnen und Kollegen. All das bleibt, dies ist mir sehr bewusst, an erster Stelle an den Lehrkräften hängen. Dass parallel dazu publizistische Debatten um Altersabminderung, Teilzeit oder Ruhestandsalter geführt werden, hat zur Verunsicherung und Verärgerung der Lehrerinnen und Lehrer beigetragen. Solche Diskussionen müssen gemeinsam und offen geführt werden.

Welche Aspekte guter Arbeitsbedingungen an Schulen sind neben einer guten Bezahlung aus Ihrer Sicht besonders wichtig und notwendig? Welche davon sind an Thüringer Schulen bereits gegeben und auf welche Aspekte wollen Sie in nächster Zeit hinarbeiten?

Gute Arbeitsbedingungen – das heißt in einer Situation der Krisen und des (Lehrer-)Mangels vor allem, dass die Realität der gesellschaftlichen Entwicklung ernst genommen und den Lehrkräften Unterstützung angeboten wird. Wir haben im Jahr 2022 eine Fülle von Maßnahmen auf den Weg gebracht: Dazu gehört die Verstärkung multiprofessioneller Teams in den Schulen. Der Diversität der Schülerschaft und den damit verbundenen Herausforderungen können pädagogische Kräfte nur im Zusammenspiel spezifischer Kompetenzen gerecht werden. Gemeinsamer Unterricht stützt Lehrkräfte und bietet Rückkopplungsmöglichkeiten. Pädagogische Assistenzen, wie wir sie auf den Weg gebracht haben, werden künftig – die ersten Einstellungen sind Anfang des Jahres 2023 vollzogen worden – gezielte Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer bieten, gerade bei Klassen mit höherem Migrationsanteil. Verwaltungsassistenzen – zwei Pilotprojekte laufen derzeit ebenfalls an – werden vor allem die Schulleitungen von administrativen Aufgaben entlasten. Eine Schule zu leiten ist eine höchst verantwortungsvolle, aber unter den derzeitigen Bedingungen auch höchst belastende Aufgabe. Dabei wollen wir unterstützen, auch um noch mehr Lehrkräften die Entscheidung zur Übernahme einer Leitungsfunktion zu erleichtern. Die Einarbeitung der Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger soll noch intensiviert werden; die Qualifizierungs- und Fortbildungsangebote nicht zuletzt über das ThILLM bieten hier ausgezeichnete Möglichkeiten. Außerordentlich wichtig ist nach wie vor die Gewinnung von DaZ-Lehrkräften und Angeboten, damit auch in multikulturellen Klassen, die bereichernd für alle sein können, sehr früh eine Verständigung und wirkungsvoller gemeinsamer Unterricht möglich ist. Die Krisen haben gezeigt, wie wichtig die Persönlichkeit der Lehrkräfte ist; gerade hier haben sich die Lehrerinnen und Lehrer in Thüringen außerordentlich bewährt. Doch ohne Frage müssen auch die digitalen Möglichkeiten weiter ausgestaltet werden. Das erfordert eine sichere Internet-Anbindung der Schulen und moderne Endgeräte. Hier sind wir weit vorangekommen, es ist aber noch einiges zu tun. Das erfordert sodann kluge Konzepte für digitalen und hybriden Unterricht, der helfen kann den Ausfall von Unterrichtsstunden zu vermeiden. Digitaler und hybrider Unterricht muss und kann aber auch neue Formen des Lernens ermöglichen, die für Heranwachsende attraktiv sind. Das ThILLM bietet dazu Fortbildungen und Handreichungen an; besonders die neue Herausforderung ChatGPT, die Texte in Sekundenschnelle produziert, verlangt eine kluge Begleitung für einen angemessenen Umgang. Und das Beispiel ChatGPT verlangt, darüber nachzudenken, welche Kompetenzen wir in der Schule vermitteln wollen; Kreativität und Innovation müssen von menschlicher, nicht künstlicher Intelligenz ausgehen. Und auch dabei handelt es sich um eine neue Herausforderung für Lehrkräfte. Wenn all diese Prozesse gut begleitet werden – und das ist an erster Stelle unsere Aufgabe als Bildungsministerium – kann Unterricht weiterhin in sehr guter Qualität gesichert werden.

Eine weitere Belastung möchte ich ansprechen: Die bürokratischen Anforderungen an Schulen steigen immer mehr. Ein Beispiel ist das Programm „Aufholen nach Corona“, das wichtig und sinnvoll ist, aber aufgrund der Förderbedingungen auch zu Überlastung und Unwillen an den Schulen geführt hat. Hier wollen wir für künftige Förderprogramme, wie sie der Bund bereits in Aussicht gestellt hat, zu leichteren Verfahren kommen, die tatsächlich Hilfe und nicht Zusatzbelastung sind.

Die Anzahl der langzeiterkrankten Lehrer:innen ist weiterhin auf Rekordniveau und das hat aus unserer Sicht viel mit den auf lange Sicht krank machenden Arbeitsbedingungen zu tun. Welche Schritte wurden in Ihrer bisherigen Amtszeit unternommen bzw. sollen unternommen werden, um daran etwas zu verbessern?

Die gesundheitliche Prävention spielt angesichts der gegenwärtigen Belastungen eine große Rolle. Das Programm „Gut geht’s“ zur Gesundhaltung der Lehrkräfte leistet einen wichtigen Beitrag. Sein Potenzial ist aber noch nicht voll ausgeschöpft. Hier sehe ich Verbesserungsbedarf, wie überhaupt Angebote für das Coaching von Lehrkräften oder gesamten Kollegien ausgebaut werden sollten, um die Beteiligten zu stärken und ihnen Resonanz zu geben zu dem, was sie täglich leisten, aber auch um eine Art „Frühwarnsystem“ bei Anzeichen von Erschöpfung und Erkrankung zu etablieren.Im Übrigen ist die Entlastung der Lehrkräfte durch zusätzliches Personal wichtig, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern: Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger, pädagogische und administrative Assistenzen, Konzepte zu einer dualen Lehrerausbildung, die Studierende früh an die Schulen bringt, tragen dazu bei. Durch all das werden noch einmal ganz andere Bewerberinnen und Bewerber angesprochen, die den Unterricht keineswegs nur ergänzen, sondern bereichern – ohne dass die über das reguläre Lehramtsstudium ausgebildeten Lehrkräfte dadurch an Bedeutung verlieren. Wichtig ist gerade bei dem neuen pädagogischen Personal das sogenannte „Onboarding“, die engagierte und fachlich versierte Begleitung der Einstiegsphase. Dann können alle diese Maßnahmen zu sehr guten Arbeitsbedingungen und einem sehr guten Arbeitsklima beitragen.

Von unseren Mitgliedern hören wir oft, dass an ihren Schulen noch nie eine Lehrkraft aus der mit den Gewerkschaften vereinbarten Personalvertretungsreserve erschienen ist. Was sind die Gründe dafür und welche konkreten Schritte hat bzw. will das TMBJS unternehmen, um diese die Arbeitsbedingungen der Lehrer:innen deutlich verbessernde Maßnahme auch in die Realität umzusetzen?

Der Begriff "Vertretungsreserve" weckt falsche Erwartungen. Angesichts des Lehrermangels kann es leider nicht gelingen, einen Pool von Lehrkräften zu bilden, der ständig zum Einsatz an wechselnden Orten zur Verfügung steht. Zwar gab es in Thüringen befristete Einstellungsermächtigungen, aber längst sind wir dazu übergegangen, ausscheidende Lehrerinnen und Lehrer auf unbefristeten Stellenplanstellen auch wieder unbefristet nachzubesetzen. Mit dem Haushalt 2021 wurden die befristeten Einstellungskontingente in 840 unbefristete Stellen umgewandelt. Die formalen und finanziellen Voraussetzungen sind geschaffen, um Stellen wiederzubesetzen und die Unterrichtsversorgung besser abzusichern. Nun gilt es durch vielfältige Maßnahmen, wie oben angesprochen, die Lehrkräfte zu unterstützen. Und es gilt, den Lehrerberuf in der Öffentlichkeit zu stärken. Nicht zuletzt ist es jetzt unsere Aufgabe, auch gemeinsam mit den Gewerkschaften die nächsten Schritte hin zu modernen Schulen, neuen Unterrichtsformen und angemessenen Arbeitsbedingungen zu schaffen.

Vielen Dank.

Die Fragen wurde von Michael Kummer, tz-Redakteur, gestellt.

Kontakt
Dr. Michael Kummer
Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Adresse Heinrich-Mann-Str. 22
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