Beispiel Österreich
Arbeiterkammer Wien: Zu Gast bei Freunden
Wien – beim Klang dieses Städtenamens denken viele Menschen an Sissi, Sachertorte oder die Staatsoper. Doch hier gibt es auch seit mehr als 100 Jahren eine lebendige und starke Arbeiterbewegung, die 1918 den Kaiser fortjagte und eine parlamentarische Republik errichtete. In der neuen Republik sollten die Interessen der abhängig Beschäftigten endlich auch strukturell berücksichtigt werden. Auf langjährige Forderung der Gewerkschaften wurde 1920 per Gesetz die Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte beschlossen. Von den Nationalsozialisten zerschlagen, wurden die Arbeiterkammern (AK) 1945/46 wieder aufgebaut. Und so kann die AK in Österreich auf eine mehr als 100jährige Geschichte zurückblicken und ist mit seinen rund 4 Millionen Mitgliedern eine lebendige und gesellschaftlich breit verankerte Institution.
Neben den allgemeinen Aufgaben (siehe Kasten) betreibt die AK in Wien auch ein eigenes Bildungszentrum, welches wir eine Woche für ein Seminar zum Thema „Wohnen und soziale Frage“ mit Teilnehmenden aus Thüringen und Hessen nutzen dürfen. Hier bin ich mit Dina Affenzeller-Greif zum Gespräch verabredet, um mehr über die Weiterbildungsangebote der Arbeiterkammer zu erfahren. Dina leitet seit August 2023 die Abteilung „Weiterbildung für Arbeit-nehmer:innen-Vertreter:innen“.
Bei meiner Einstiegsfrage, wann sie das erste Mal im Leben Kontakt mit der Arbeiterkammer hatte, lacht sie. „Ich hatte schon immer Kontakt mit der AK“, sagt sie. Kein Wunder, kommt sie doch aus einer klassischen Wiener Arbeiterfamilie. Sie erzählt mir, dass bereits ihre Eltern in der Gewerkschaft waren und sich in der betrieblichen Interessenvertretung engagiert haben. Genau an diese Zielgruppe richtet sich auch das Bildungsangebot der AK. „Wir haben hier ein breites Angebot. Wirtschaft, Politik und Recht stehen im Mittelpunkt, aber auch soziale Kompetenzen und sicheres Auftreten sind für betriebliche Interessenvertretungen wichtig!“ sagt sie. Natürlich gebe es immer wieder neue Themen:
„Die Digitalisierung und der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Arbeitswelt beschäftigt viele Kolleg:innen aktuell. Auch der nachhaltige Umbau der Wirtschaft“.
Meine Frage, wie eng das Verhältnis der Bildungsabteilung der AK zu den Gewerkschaften sei, beantwortet sie kurz: „Sehr eng!“ und erläutert mir das Ineinandergreifen bei der Weiterbildung. Die Grundlagenschulungen absolvieren die betrieblichen Interessenvertretungen ähnlich wie in Deutschland bei den Gewerkschaften direkt. Die Angebote der AK und des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) bauen darauf auf und werden in Kooperation durchgeführt. Wird das Angebot gut angenommen? „Ja, schon!“, sagt Dina und berichtet mir nicht ganz ohne Stolz, dass im vergangenen Jahr 235 Seminare mit mehr als 4.300 Teilnahmen im Bildungszentrum der AK Wien stattfanden.
Ein Angebot hebt Dina Affenzeller-Greif besonders hervor: die Sozialakademie. Dies ist ein zehnmonatiger Vollzeitlehrgang, an dessen Ende die Teilnehmenden in der Lage sein sollen, komplexe politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse und ihre Ursachen zu analysieren, um als Interessenvertretung strategisch denken und handeln zu können. Um auch über den eigenen Tellerrand zu schauen, ist ein einmonatiges Praktikum im europäischen Ausland fixer Bestandteil. Auch in Thüringen waren schon Teilnehmende.
Und weil man für all diese Angebote qualifizierte Trainer:innen benötigt, gibt es mit der Referent:innen-Akademie (REFAK) ein maßgeschneidertes Bildungsangebot für alle, die als Referent:innen aktiv in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung tätig sind oder sein wollen. All diese Aufgaben erledigt Dina Affenzeller-Greif natürlich nicht alleine, sondern im Team mit ihren 14 Kolleg:innen. Bei meiner Frage nach der vorhandenen Infrastruktur, muss sie kurz durchzählen
„13 Seminar- und Gruppenräume stehen in den hauseigenen Räumen zur Verfügung“
, antwortet sie schließlich und ergänzt:
„Wichtig, ist, dass wir neben den pädagogischen Beschäftigten auch Kolleg:innen in der Administration haben, sodass alle Räume stets optimal ausgestattet sind“.
Wie gut die Lernbedingungen für die Teilnehmenden sind, zeigt sich auch im Erdgeschoss. Dort befindet sich ein großer Veranstaltungssaal, in dem an diesem Morgen rund 350 Teilnehmende der AK Stadttagung „Wohnungsmärkte in Europa unter Druck“ Antworten auf die Frage nach leistbarem Wohnraum diskutieren.
Doch der vielleicht wichtigste Raum des Bildungszentrums befindet sich nebenan: Die Kantine „Utopia“. Die freundlichen Beschäftigten versorgen nicht nur alle Lernhungrigen mit ausgezeichnetem Essen, sondern die Kantine ist zugleich der Ort, an dem alle im Haus zum ungezwungenen Austausch zusammenfinden. Sie zeigt, dass optimale Bedingungen für die Weiterbildung keine Utopie bleiben müssen – auch nicht in Thüringen.
Steckbrief Arbeiterkammer in Österreich
Name
Kammer für Arbeiter und Angestellte, kurz Arbeiterkammer (AK)
Aufbau
9 Arbeiterkammern in den Bundesländern, 1 Bundesarbeitskammer (geschäftlich geführt von der AK Wien)
Mitgliedschaft
gesetzliche Mitgliedschaft von rund 4 Millionen unselbständig Beschäftigten
Finanzierung
0,5 % ihres monatlichen Bruttoeinkommens aller Mitglieder (max. 19 Euro). Arbeitsuchende, Azubis, Beschäftigte in Elternzeit und Geringverdienende sind beitragsbefreit.
Summe Mitgliedsbeiträge pro Jahr
608 Millionen Euro (Stand 2023)
Beschäftigte
Landesweit insg. 3.100 Beschäftigte (Stand 2023)
Vertrauen
Beim jährlich in der Bevölkerung abgefragten Vertrauensindex in Institutionen liegt die AK mit 58 % Vertrauen hinter Polizei und Bundesheer auf Platz 5 ganz vorne mit dabei.
Angebotspalette
- umfangreiches persönliches und telefonisches Beratungsangebot mit rund 2,3 Millionen Anfragen pro Jahr (Arbeits- und Sozialrecht, Lohnsteuer, Mietrecht, Verbraucherschutz, u.a.)
- Erstellung von wissenschaftlichen Studien zu unterschiedlichen Themen (Arbeit, Wirtschaft, Steuern, Frauen, Gleichbehandlung, Wohnen, Verkehr und Infrastruktur, Gesundheit, EU, u.a.)
- Informationsaufarbeitung in Publikationen (Broschüren, Flyer, Website, Musterschreiben, u.a.), Beispiele hierfür sind:
» 10 Tipps für Ferienjobber inkl. Tabelle zur Arbeitszeiterfassung
» Musterbrief Falsche Telefon- und Internetkosten
» Publikation Diskriminierungserfahrungen in Österreich
» zweimonatliches Fachmagazin der AK Wien für Betriebsrät:innen und Personalvertreter:innen - Erstellung von wirtschaftlichen Branchenanalysen in Vorbereitung von Tarifverhandlungen für die Gewerkschaften und des österreichischen Arbeitsklima Index
- Weiterbildungen und Schulungen, insbesondere für Betriebs- und Personalräte (siehe Artikel)
- mehrere öffentlich zugängliche Bibliotheken
- Erarbeitung eigener Gesetzesvorschläge und Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben
- Vertretung der Interessen von Arbeitnehmer*innen gegenüber Politik, Verwaltung und Wirtschaft sowie in den Medien
- Internationale Interessenvertretung (mit dem ÖGB) z.B. in Brüssel