Interview mit einer Seiteneinsteigerin an der Regelschule
„Am Anfang weniger Stunden: Es ist notwendig zum Überleben!“
Es kommt nicht nur auf einen selbst an, sondern vor allem auch auf das Kollegium, in welches man als Seiteneinsteigerin hinein gerät. Über sich versteckende Kollegen, hartnäckiges Nachfragen und den fruchtbringenden Wechsel in einen anderen Schulamtsbereich.
Welchen Berufsweg hast du vor dem Seiteneinstieg durchlaufen?
Als Diplomchemikerin habe ich sechs Jahre in der Forschung und danach drei Jahre in der Industrie gearbeitet. Wobei ich bereits beim Umstieg von der Forschung in die Industrie beim Ministerium anfragte, ob ich an einer Schule als Lehrerin anfangen könnte. Aber damals im Jahr 2016 wollte man noch keine Seiteneinsteiger an einer allgemeinbildenden Schule und ich war damals noch nicht so schlau, auch an einer Berufsschule anzufragen.
In welcher Situation bist Du dann doch noch eine Seiteneinsteigerin geworden?
Das war zu Coronazeiten im Jahr 2020. Ich wollte meine Leidenschaft, die Chemie, an die Kinder weitergeben. Ich weiß aus meiner eigenen Zeit, wie trocken das Fach sein kann und ich hab einfach gemerkt, dass es mir am Herzen liegt. Und ich war immer dabei, es unseren Azubis, im Freundeskreis, hier und da zu erklären. Und da hab ich gedacht: Warum das nicht auch gleich beruflich machen?
Wie lief die Bewerbung damals ab? Hast Du Dich proaktiv gekümmert oder wurdest Du informiert, weil bekannt war, dass Du in den Schuldienst möchtest?
Es war für mich eine schwere Suche, wie es überhaupt funktioniert. Ich habe mich in ein Onlineformular eintragen müssen, u.a. die eine Reihenfolge der Schulamtsbereiche. Ich habe allerdings erst hinterher festgestellt, dass das entscheidend ist und ich mich für ein bestimmtes Schulamt entschieden hatte. Und dann rief irgendwann dieses Schulamt an und schlug mir eine Stelle an zwei Regelschulen vor. Dieses damalige Internetformular war für mich ganz schön verwirrend und es war auch für mich auch nicht klar, dass meine Bewerbung dann im Internet noch ewig steht. So habe ich dann noch eine ganze Weile Anrufe von Berufsschulen bekommen, während ich schon lange im Job war, denen ich dann immer absagen musste.
Und dann kam der Vorbereitungskurs, in welchem pädagogische und didaktische Grundlagen im Schnellverfahren gelernt wurden?
Nein. Diesen Kurs kenne ich jetzt, damals kannte den keiner. Davon habe ich erst erfahren, als ich beim Studienseminar saß, wo ich eine Nachqualifizierung absolvierte. Ich bin heute noch etwas neidisch auf diesen Kurs, den hätte ich so gern gehabt.
Du hast also angefangen ohne irgendeine Vorbereitung? Wie lief das in Deinen neuen Schulen am Anfang ab?
An der einen Schule wurde mir am Anfang gesagt, wo ich das Lehrerzimmer finden könne. Und dort sollte ich Kolleginnen oder Kollegen fragen, ob ich bei denen im Unterricht hospitieren können. Einige wollten das aber nicht. Die andere Schule hat mir einen Hospitationsplan für zwei Tage geschrieben. Nach den ein oder zwei Wochen habe ich dann angefangen zu unterrichten.
An der einen Regelschule konnte ein Großteil der Kollegen also nichts mit Seiteneinsteigern anfangen?
Ich würde sagen, dass die Kolleginnen und Kollegen ganz viel mit ihrem eignen Unterricht zu tun hatten. Die waren einfach mit Arbeit voll. Ich würde nicht sagen, dass die grundsätzlich dagegen waren.
Du hast den Vorbereitungskurs nicht gehabt, da kann man sich vorstellen, dass es nicht so einfach war am Anfang, oder?
Ich hab mir erstmal schrittweise einen Plan gemacht, wie Unterricht eigentlich funktioniert. Das war am Anfang ziemlich holprig. Zum Zeitpunkt meiner Einstellung lief das Schuljahr schon zwei, drei Wochen und so war ich in der Stundenvorbereitung immer nur eine oder zwei Stunden vor den Schülern. Das hat natürlich nicht zur Sicherheit beigetragen und war am Anfang sehr holperig. Es ging aber nicht nur darum, wie Unterricht geht, sondern auch um die vielen stillschweigenden Regeln an den beiden Schulen, die ich naturgemäß zunächst nicht kannte. Das ist in Schulen wie in Kleinfirmen, dort gibt es auch ganz viele ungeschriebene Gesetze und die sind ganz unterschiedlich. Ich habe mir beispielsweise ganz viel Zeug selber gekauft, nur um ein Jahr später dann festzustellen, das gibt es auch hier. Die Coronazeit war natürlich sehr belastend, vielen Kindern ging es nicht gut. Das hat man ganz oft gemerkt und die Kollegen waren auch ausgelastet, weil eben ganz viel dazu kam. Wir haben getestet, wir durften unsere Fachräume nicht mehr benutzen, die Kinder waren in ihren Räumen und wir sind hin und her gelaufen. Also es war einfach eine ganz große Last für alle.
Bist du wenigstens von der Fachschaft unterstützt worden?
Ich habe nach einem halben Jahr herausbekommen, dass es eigentlich zwei Kollegen gab, die mich hätten betreuen sollen. Das wurde mir gegenüber aber nie so kommuniziert. Es gab tatsächlich, was an Regelschulen eher selten ist, noch einen zweiten Chemielehrer, auch ein Seiteneinsteiger. Ausgerechnet er wollte aber von Anfang an nichts mit mir zu tun haben. Er hat mich am ersten Tag begrüßt und fragte mich, ob ich mir das richtig überlegt hab. Die zweite Kollegin, die für mich da sein sollte, hat sich ebenso nicht einmal bei mir proaktiv gemeldet. Und ich wiederum wusste nicht, dass es die beiden für mich gab, wir waren damals im Homeschooling. Im zweiten Kollegium war es dagegen deutlich leichter als im ersten. Ich habe gelernt, dass keine Schule so ist wie die andere. Und so habe ich dort das Lehrerzimmer als mein persönliches Google benutzt, was für die Kollegen sicherlich immer etwas störend war. Das war mir auch bewusst, aber ich hätte nicht überlebt ohne.
Wie viele Unterrichtsstunden hast du zu Beginn geben müssen?
Ich habe von Anfang an 20 Stunden gegeben – zehn Stunden in der einen Schule, zehn Stunden in der anderen. Und nebenbei habe ich gleich die Nachqualifizierung im Studienseminar begonnen. Das Studienseminar war berufsbegleitend und fand montags in Gera statt. Aus heutiger Sicht würde ich allerdings jedem Seiteneinsteiger raten, nicht in Vollzeit zu starten. Und wenn man am Anfang nur vier Stunden weniger nimmt: Es ist notwendig zum Überleben!
Heute bist Du nicht mehr in einer Schule im Schulamtsbereich Mittelthüringen, sondern in Ostthüringen. Wann und warum fand der Wechsel denn statt?
Vor einem guten Jahr bin ich nach Ostthüringen gewechselt. Ich habe nun ein Kollegium, was zu mir passt bzw. zu dem ich passe. Wir sind ja so etwas wie Kleinfirmen, die davon leben, welche Charaktere zusammen kommen. Es ist wichtig, gut zusammen zu funktionieren. Das ist für die verbeamteten Jungkollegen so schwer, denn welche Dynamiken da herrschen, bemerkt man erst nach ein oder zwei Jahren.
Und wie hast du die neue Schule gefunden?
Ich habe sie mir angeschaut und habe, mit meiner Erfahrung, kritische Fragen gestellt – sicherlich auch auf meinen Fachbereich bezogen. Ich habe auch gesehen, dass sehr viele Seiteneinsteiger und auch Quereinsteiger da waren, was einfach schon für die Einstellung gegenüber uns Seiteneinsteigern sprach. Ich habe ja vorher in einem der beiden Kollegien die Erfahrung machen müssen, dass Seiteneinsteiger sehr kritisch betrachtet und behandelt wurden. Ich verstehe die Hintergründe, die Kollegen haben einen echten Kampf in ihrem Studium hinter sich. Aber das macht etwas mit einem, wenn man sich gegenseitig in den Dienstberatungen heruntermacht. Und das wurde nicht nur bei den Seiteneinsteigern gemacht, sondern das gab es für fast jeden Kollegen. Das kam nicht von der Schulleitung, sondern von den Kolleginnen und Kollegen.
Fühlst du dich in der neuen Schule als gleichwertig angesehen und behandelt?
Ja, denn wir haben alle Lehrerwege an der Schule vertreten, die es gibt. Und irgendwie ist jeder gleichwertig. Das ist toll! Und wir reden auf eine sehr effektive Art, wir haben nicht viel Zeit. Durch die digitale App hat sich eine super schnelle Zusammenarbeit etabliert. Es ist auch einfach sehr wichtig, mit dem Klassenlehrer zu kommunizieren, bei größeren Verstößen auch mit der Schulleitung. Das funktioniert bei uns eben auch ganz gut, da wir gemeinschaftlich daran arbeiten, dass es den Kindern gut geht.
Du hast den Umgang verschiedener Thüringer Schulämter mit Dir als Seiteneinsteigerin kennen gelernt. Welche Unterschiede hast Du festgestellt?
Beim Bewerbungsprozess habe ich noch mehr von den Schulämtern mitbekommen als jetzt, in meinem Fall als Mitte, Süd und Ost. Es ist auffällig gewesen, dass sich Ost und Süd sehr schnell bei Bewerbungen gemeldet haben. Die Erreichbarkeit in Mitte war ein größeres Problem, wogegen ich es bei Süd und Ost erlebt habe, dass das Schulamtspersonal deutlich schneller erreichbar war und mehr möglich machten.
Wenn Du jetzt nochmal neu anfangen würdest als Seiteneinsteigerin: Welche Tipps hast Du für Deine Nachfolger?
Ich rate Leuten, welche den Weg des Seiteneinsteigers machen wollen, nicht mit 100 % einzusteigen. Selbst 90 % sind schon besser. Ebenfalls lege ich den Vorbereitungskurs sehr ans Herz, sowie das Kaufen von fertigen Unterrichtsstunden, zumindest am Anfang. Und vor allem sollte man mit sich selbst nicht zu perfektionistisch zu sein! Die ersten Stunden sind wie erste Schritte, etwas wacklig. Und nicht auf sowas hören wie „Du bist kein geborener Lehrer“. Meine Meinung ist: Keiner wird als Lehrer geboren, es braucht ein bisschen Geduld dazu. Und von nichts, was passiert, direkt abschrecken lassen! Schüler:innen testen am Anfang aus und das ist ganz normal. Man merkt den Unterschied zu den studierten Kollegen schon. Sie bringen einen viel größeren Werkzeugkoffer mit, aber über die Jahre wird der Unterschied kleiner und kleiner.
Vielen Dank
Das Interview wurde von Michael Kummer geführt.
99096 Erfurt
